Die Nadel.
mit mir . . . «
Seine
Stimme wurde leiser, während sie auf Zehenspitzen in die Küche schlich. Bob würde sie
warnen, wenn Henry mehr tat, als nur zu reden.
Sie kramte in Toms Werkzeugkasten,
bis sie eine Kneifzange fand. Dann ging sie ans Küchenfenster und tastete nach den Köpfen
der drei Nägel, die sie eingehämmert hatte. Vorsichtig und so leise wie möglich zog sie
sie heraus. Es erforderte ihre ganze Kraft.
Als sie fertig war, kehrte sie ins
Wohnzimmer zurück, um zu lauschen.
». . . mach mir keine Schwierigkeiten, und ich
lasse dich in Ruhe . . . «
So geräuschlos wie möglich öffnete sie das
Küchenfenster. Sie schlich ins Wohnzimmer zurück, griff sich den Hund und zog sich wieder
in die Küche zurück.
». . . dir weh zu tun würde mir nie einfallen . . . «
Sie streichelte den Hund ein- oder zweimal und flüsterte: »Ich würde es nicht tun,
wenn ich anders könnte, Bob.« Dann stieß sie ihn aus dem Fenster.
Lucy schloß es hastig, ergriff einen Nagel und hämmerte ihn mit drei
kurzen Schlägen an einer anderen Stelle ein.
Sie ließ den Hammer fallen, packte
die Flinte und lief ins Vorderzimmer. Dort preßte sie sich dicht neben dem Fenster gegen
die Wand.
». . . dir eine letzte Chance geben – ah!«
Lucy hörte das
Trippeln von Pfoten, ein markerschütterndes Bellen, wie sie es einem schottischen
Schäferhund nie zugetraut hätte, ein scharrendes Geräusch und das Poltern eines großen
Mannes, der zu Boden fiel. Henry keuchte und stöhnte, wieder vernahm sie das Tappen von
Hundepfoten, einen Schmerzensschrei, einen Fluch in einer fremden Sprache und erneutes
Bellen. Wenn sie nur sehen könnte, was geschah.
Die Geräusche wurden dumpfer,
entfernten sich und hörten plötzlich auf. Lucy wartete – sie drückte sich immer noch
gegen die Wand neben dem Fenster – und strengte ihre Ohren bis zum äußersten an. Sie
wollte hinaufgehen und nach Jo sehen, noch einmal das Funkgerät ausprobieren oder auch nur
husten, aber sie wagte nicht, sich zu bewegen. Blutrünstige Visionen dessen, was Bob mit
Henry angestellt haben mochte, gingen ihr durch den Sinn. Sie sehnte sich danach, den Hund
an der Tür schnuppern zu hören.
Sie betrachtete das Fenster. Dann merkte sie, daß sie das Fenster betrachtete. Sie konnte nicht nur ein Quadrat von schwach
hellerem Grau erkennen, sondern den hölzernen Querbalken des Rahmens. Es war gerade noch
Nacht: sie wußte, daß der Himmel, wenn sie nach draußen schauen würde, anstelle der
undurchdringlichen Dunkelheit jetzt ganz schwach erhellt sein würde. Mit jeder Minute
konnte es dämmern. Dann würde sie in der Lage sein, die Möbel im Zimmer zu sehen, und
Henry würde sie nicht mehr in der Dunkelheit überraschen können –
Ein paar
Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt zersplitterte krachend die Fensterscheibe. Lucy fuhr
zusammen. Sie spürte einen kurzen durchdringenden Schmerz an der Wange, berührte die
Stelle und wußte, daß sie von einem durch die Luft gewirbeltenSplitter verletzt worden war. Sie riß die Schrotflinte hoch und wartete auf Henry, der
durch das Fenster klettern würde, doch nichts geschah. Erst als ein oder zwei Minuten
vergangen waren, fragte sie sich, was das Fenster zerbrochen hatte.
Sie spähte
angestrengt auf den Fußboden. Zwischen den Glasscherben lag etwas Großes, Dunkles. Sie
stellte fest, daß sie von der Seite besser sehen konnte als unmittelbar von vorn. Erst
allmählich erkannte sie die vertraute Gestalt des Hundes.
Lucy schloß die Augen,
dann wandte sie den Blick ab. Sie war unfähig, irgend etwas zu empfinden. Ihre Gefühle
waren durch die Gefahr und die Morde abgestumpft: erst David, dann Tom, dann die endlose,
unerträgliche Spannung der nächtlichen Belagerung . . . Alles, was sie spürte ,
war Hunger. Gestern war sie den ganzen Tag über zu nervös gewesen, um etwas zu essen, was
bedeutete, daß seit ihrer letzten Mahlzeit sechsunddreißig Stunden vergangen waren. Jetzt
sehnte sie sich, so widersinnig und lächerlich es auch war, nach einem Käse-
Sandwich.
Etwas anderes kam durch das Fenster.
Sie bemerkte es aus dem
Augenwinkel heraus und drehte den Kopf, um direkt hinzusehen.
Es war Henrys
Hand.
Lucy starrte sie wie hypnotisiert an: eine Hand mit langen unberingten
Fingern, weiß unter dem Schmutz, mit gepflegten Nägeln und einer Bandage um die Spitze
des Zeigefingers – eine Hand, die sie intim berührt,
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