Die Nadel.
war ein gerechter Krieg. Wenn er auch zu alt war, um
an der Front zu kämpfen, war er immer noch jung genug, um zu helfen.
Doch der
Gedanke, seine Arbeit unterbrechen zu müssen – und für wie viele Jahre? –,
deprimierte ihn. Seine Liebe galt derGeschichte. Seit dem Tode seiner
Frau vor zehn Jahren hatte ihn das mittelalterliche England ganz in Beschlag genommen. Ihm
gefielen die Entwirrung von Geheimnissen, die Entdeckung kaum sichtbarer roter Fäden, die
Lösung von Widersprüchen, die Demaskierung von Lügen, Propaganda und Mythen. Sein neues
Buch würde auf seinem Gebiet das beste der letzten hundert Jahre sein, und die nächsten
hundert würde sich kein anderes mit ihm vergleichen lassen. Es hatte sein Leben so lange
Zeit beherrscht, daß der Gedanke, es im Stich zu lassen, fast unwirklich schien, so schwer
zu verdauen wie die Nachricht, daß man Waise ist und überhaupt nicht verwandt mit den
Menschen, die man immer Mutter und Vater genannt hat.
Das schrille Heulen der
Sirenen unterbrach seine Gedanken. Er überlegte, ob er den Alarm ignorieren sollte. So
viele Menschen taten es, und zu Fuß würde er nur zehn Minuten bis zum College
brauchen. Aber er hatte keinen wirklichen Grund mehr, in sein Arbeitszimmer zurückzukehren
– er wußte, daß er heute nicht mehr arbeiten würde. Deshalb eilte er in eine U-Bahn-
Station und schloß sich der dichten Menge von Londonern an, die sich die Treppe hinab auf
den verschmutzten Bahnsteig drängten. Dort blieb er an der Wand stehen, starrte ein
Reklameplakat für Bovril-Brühe an und dachte: Aber es geht nicht nur um das, was ich
aufgeben muß.
Es deprimierte ihn auch, wieder dem Geheimdienst zuarbeiten zu
sollen. Es gab einiges, was ihm daran gefiel: die Bedeutung von Kleinigkeiten, der Wert,
den man der Intelligenz zumaß, die Gewissenhaftigkeit, die Detektivarbeit. Doch er haßte
Dinge wie Erpressung, Verrat und Betrug und die Art und Weise, wie man dem Feind das Messer
in den Rücken stieß.
Mehr Leute drängten auf den Bahnsteig. Godliman setzte sich,
solange es noch Platz gab, und bemerkte, daß neben ihm ein Mann saß, der die Uniform
eines Busfahrers trug. Der Mann lächelte und sagte: »Oh, in England zu sein, nun da es
Sommer ist. Wissen Sie, wer das gesagt hat?«
»Da es April ist«, korrigierte
Godliman. »Es war Browning.«
»Ah, ich habe gehört, es sei Adolf Hitler gewesen«, sagte der
Fahrer. Eine Frau neben ihm quiekte vor Lachen, und er wandte sich ihr zu. »Haben Sie
gehört, was der Evakuierte zu der Frau des Farmers sagte?«
Godliman schaltete ab
und erinnerte sich an einen April, in dem er sich nach England gesehnt hatte. Er hatte hoch
oben auf dem Ast einer Platane gehockt und durch den kalten Nebel über ein französisches
Tal hinweg hinter die deutschen Linien gespäht. Selbst durch sein Fernrohr hatte er nichts
als verschwommene dunkle Gestalten sehen können. Er hatte gerade hinunterrutschen und
vielleicht noch ein oder zwei Meilen weiter gehen wollen, als ganz plötzlich drei deutsche
Soldaten aufgetaucht waren. Sie hatten sich um den Fuß des Baumes herum gesetzt und
Zigaretten angezündet. Nach einer Weile hatten sie Karten hervorgeholt und zu spielen
begonnen. Dem jungen Percival Godliman war klargeworden, daß sie es irgendwie geschafft
hatten, sich zu drücken, und daß sie den ganzen Tag hier sein würden. Er war auf dem
Baum geblieben, fast ohne sich zu bewegen, bis er erbärmlich fror, seine Muskeln sich
verkrampften und seine Blase zu platzen drohte. Da hatte er seinen Revolver gezogen und die
drei erschossen – einen nach dem anderen, von oben durch ihre kurzgeschorenen
Schädel. Drei Menschen, die gelacht und geflucht und ihren Sold verspielt hatten, waren
einfach ausgelöscht worden. Es war das erste Mal gewesen, daß er getötet hatte, und er
hatte nichts denken können als: Nur weil ich pinkeln mußte.
Godliman rückte auf
dem kalten Beton des Bahnsteigs zur Seite und ließ die Erinnerung verblassen. Ein warmer
Wind wehte aus dem Tunnel, und ein Zug fuhr ein. Die Menschen, die ausstiegen, suchten sich
einen Platz, um auf die Entwarnung zu warten. Godliman lauschte den Stimmen.
»Hast
du Churchill im Radio gehört? Wir haben ihn im Duke of Wellington gehört. Der alte
Jack Thornton hat geheult. Blöder alter Trottel . . . «
»Anscheinend ist Kathys
Junge in einem Herrenhaus und hat seinen eigenen Diener! Mein Alfie
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