Die Nadel.
einer solchen Geschwindigkeit zwischen England und
Frankreich hin und her, daß man ihm magische Kräfte zumaß – ein Gerücht, das er
verständlicherweise mitnichten zu unterdrücken suchte. Im Jahre 1173 – entweder im Juni
oder im September, je nachdem, welche Quelle man bevorzugt – kam er nach England und
reiste so schnell wieder nach Frankreich ab, daß kein zeitgenössischer Schreiber es je
festhalten konnte. Später entdeckten Historiker Aufzeichnungen über die Kosten seiner
Unternehmungen in den Schatzkammerrollen. Damals wurde sein Königreich im Norden und
Süden von seinen Söhnen angegriffen – an der schottischen Grenze und im Süden von
Frankreich. Aber was genau war der Zweck seines Besuches? Mit wem traf er sich? Warum wurde
der Besuch geheimgehalten, obwohl der Nimbus von der magischen Reisegeschwindigkeit des
Königs eine Armee aufwog? Was erreichte er damit?
Dieses Problem beschäftigte
Percival Godliman im Sommer des Jahres 1940, als Hitlers Armeen wie eine Sichel über die
französischen Kornfelder fegten und die Briten in heillosem Durcheinander unter blutigen
Verlusten aus dem Kessel von Dünkirchen flohen.
Professor Godliman wußte mehr
über das Mittelalter als irgend jemand sonst. Sein Buch über den Schwarzen Tod hatte alle
bisherigen Thesen der Mittelalterforschung über den Haufen geworfen; es war sogar ein
Bestseller gewesen und als Penguin-Taschenbuch herausgekommen. Danach hatte er sich einer
etwas früheren und noch schwerer zugänglichen Periode zugewandt.
Eine der
Sekretärinnen des Instituts fand Godliman um 12.30 Uhr an einem strahlenden Junitag in
London über eine Handschrift gebeugt. Er übersetzte mühsam das mittelalterliche Latein
und machte Notizen in seiner eigenen, noch weniger leserlichenHandschrift. Der Sekretärin, die ihren Lunch im Garten des Gordon Square essen wollte,
gefiel der Handschriftenraum nicht, weil er nach Tod roch. Man brauchte auch ungefähr so
viele Schlüssel, um dorthin zu kommen, wie bei einem Grabgewölbe.
Godliman stand
wie ein Vogel auf einem Bein am Lesepult; ein Scheinwerfer strahlte sein Gesicht von oben
unfreundlich an. Er hätte der Geist des Mönchs sein können, der das Buch verfaßt hatte
und nun in der Kühle bei seiner geliebten Chronik wacht. Das Mädchen räusperte sich und
wartete darauf, daß er sie bemerkte. Godliman war ein kleiner, kurzsichtiger Mann mit
runden Schultern, der einen Tweedanzug trug. Sie wußte, daß er völlig vernünftig sein
konnte, wenn man ihn einmal aus dem Mittelalter herausgezerrt hatte. Wieder hüstelte sie
und sagte: »Professor Godliman?«
Er blickte auf und lächelte, als er sie
erkannte. Jetzt wirkte er nicht mehr wie ein Geist, sondern eher wie ein vertrottelter
Familienvater.
»Hallo!« sagte er erstaunt, als begegne er seiner Hausnachbarin
mitten in der Sahara.
»Ich sollte Sie daran erinnern, daß Sie im Savoy mit Colonel
Terry zum Lunch verabredet sind.«
»Oh, ja.« Er nahm seine Uhr aus der
Westentasche und schaute auf das Ziffernblatt. »Wenn ich zu Fuß gehe, wird es Zeit.«
Sie nickte. »Ich habe Ihre Gasmaske mitgebracht.«
»Sie sind sehr aufmerksam!«
Er lächelte wieder, und sie kam zu dem Schluß, daß er ganz nett aussah. Er nahm die
Gasmaske. »Brauche ich meinen Mantel?«
»Sie hatten heute morgen keinen dabei. Es
ist ziemlich warm. Soll ich hinter Ihnen abschließen?«
»Vielen Dank, vielen
Dank.« Er zwängte sein Notizbuch in die Jackentasche und ging hinaus.
Die
Sekretärin blickte sich um, erschauerte und folgte ihm.
Colonel Andrew Terry war ein Schotte mit rotem Gesicht, und er war
spindeldürr, was daran liegen mochte, daß er schon ein Leben lang stark rauchte. Er hatte
schütteres dunkelblondes Haar, das ausgiebig pomadisiert war. Godliman traf ihn an einem
Ecktisch im Savoy Grill an; er trug Zivil. Drei Zigarettenstummel lagen im
Aschenbecher. Terry stand auf, um ihm die Hand zu schütteln.
Godliman sagte:
»Morgen, Onkel Andrew.« Terry war der jüngere Bruder seiner Mutter.
»Wie
geht’s, Percy?«
»Ich schreibe ein Buch über die Plantagenets.« Godliman setzte
sich.
»Sind deine Handschriften immer noch in London? Das überrascht mich.«
»Wieso?«
Terry zündete sich eine weitere Zigarette an. »Du solltest sie aufs
Land bringen, um sie vor Bomben zu schützen.«
»Wirklich?«
»Die halbe
Nationalgalerie ist in ein Riesenloch irgendwo in Wales
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