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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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laufen.
    Auf Zehenspitzen ging er zur Vorderseite des Hauses. Der 1930еr-Invicta strahlte noch Wärme ab. Der Fahrgastraum lag sehr tief, wie eine Badewanne mit roten, gerillten Ledersitzen. Der Zündschlüssel steckte. Reggies Gedankengang war ganz einfach: Mir ist kalt, das Auto ist warm, also borge ich’s mir für eine kurze Spritztour. Er ließ sich auf den Fahrersitz gleiten und drehte den Zündschlüssel. Der 240 PS starke Lagonda-Motor röhrte auf, viel zu laut. Im nächsten Moment wurde er panisch. Wo, zum Teufel, war der Schaltknüppel? Er tastete überall danach. Da wurde die Haustür aufgerissen.
    Im selben Augenblick fiel es ihm wieder ein – das Scheißauto hatte ein verdammtes Automatikgetriebe, das erste in Großbritannien! Er drückte das Gaspedal durch, und die Schaltung funktionierte einwandfrei. Der Wagen schoss mit einem solchen Satz los, dass hinter den Reifen der Kies aufspritzte. Im Rückspiegel sah er einen wütenden Mann mittleren Alters, der die Fäuste in die Luft reckte. Der Motor übertönte sein Gebrüll.
    »Gleichfalls, Kumpel«, rief Reggie. »Danke für die Kiste und die Frau Gemahlin.«
    Er ließ den Invicta vor dem Pub in Fishbourne stehen und lief die letzte Meile, pfiff in der Dunkelheit vor sich hin und rieb sich die kalten Hände. Im Camp loderte ein mit Kerosin getränkter Holzstapel, also hatte er keine Schwierigkeiten, den Weg zu finden. Eine dichte Wolkendecke verhüllte den Mond, sodass der Nachthimmel aussah wie grauer Flanell. Dichter schwarzer Qualm stieg vom Feuer auf, wie ausschwärmende Harpyien, und Reggie sah ihm nach, bis er ihn über dem hoch aufragenden Kirchturm der Abtei von Vectis aus den Augen verlor.
    Als sich Reggie dem Feuer näherte, um sich aufzuwärmen, wurde die Tür von einem der ramponierten Wohnwagen geöffnet. Ein schlaksiger junger Mann rief: »Hey! Seht mal, wer da kommt! Reg ist rausgeflogen!«
    »Ich bin allein gegangen, Kumpel«, versetzte Reggie. »Irgendwas zu essen da?«
    »Eine Büchse Bohnen, glaube ich.«
    »Gut, dann schmeiß sie raus. Ich bin total ausgehungert vom Vögeln.«
    Der junge Mann lachte schallend auf, aber das Wort schien magische Wirkung gehabt zu haben, denn sämtliche Türen der vier Wohnwagen wurden aufgerissen, und die Bewohner kamen heraus, um mehr zu hören. Selbst Geoffrey Atwood, der einen dicken Rollkragenpullover trug, trat aus dem Chefwohnwagen und zog nachdenklich an seiner Pfeife. »Hat jemand Vögeln gesagt?«
    »Ihr erwartet doch nicht etwa, dass ich es euch in allen Einzelheiten erzähle, Leute?«
    »Doch, genau das erwarten wir«, sagte Dennis Spencer, der schlaksige junge Mann, lüstern. Dennis war ein pickliger Studienanfänger aus Cambridge und so jung, dass er nicht zum Kriegsdienst eingezogen worden war.
    Vier weitere Personen waren anwesend, drei Männer und eine Frau, alle stammten aus Atwoods Fachbereich. Martin Bancroft und Timothy Brown waren ebenfalls Studenten, wenn auch in höheren Semestern. Nachdem der Krieg beendet worden war, wollten sie ihren Abschluss nachholen. Martin hatte England nie verlassen. Er war als Offizier beim Nachrichtendienst in London stationiert gewesen. Timothy hatte als Radarbeobachter auf einer Fregatte gedient, die hauptsächlich in der Ostsee eingesetzt worden war. Beide waren heilfroh, wieder in Cambridge zu sein, und überglücklich bei der Aussicht auf ein bisschen echte Feldforschung.
    Ernest Murray war älter, über dreißig, und machte derzeit seinen Doktor in Vor-und Frühgeschichte, nachdem er das Studium unterbrochen hatte, als die Deutschen in Polen einmarschiert waren. Er hatte schwere Kämpfe in Indochina miterlebt und war seitdem sehr verschlossen. Er wusste nicht mehr, wie er die archäologische Forschung zur angelsächsischen Epoche einmal so wichtig hatte finden können, genauso wenig, wie er nach seiner Rückkehr von der Front wusste, was er mit seinem Leben anfangen sollte.
    Das einzige weibliche Mitglied der Gruppe war Beatrice Slade. Sie war Dozentin für Mittelalterliche Geschichte und hatte als Atwoods akademische Vertraute im Krieg seinen Fachbereich weitgehend allein geleitet. Sie war eine resolute, schlagfertige Frau und bekennende Lesbe. Reggie und sie kamen überhaupt nicht miteinander aus. Sobald sie ihm den Rücken zukehrte, lästerte er über ihre sexuellen Neigungen, und sie zahlte es ihm mit gleicher Münze zurück.
    »Also, da wir schon alle wach sind«, sagte Atwood und blinzelte ins Feuer, »wollen wir da nicht zusammen einen

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