Die Namen der Toten
die kühle, klimatisierte Luft. Fünf Schritte, zehn, zwanzig, hundert. Er hatte nicht vor, durch das ganze Gewölbe zu gehen; dazu fehlte ihm die Zeit. Er ging nur so weit, dass er die ganze Größe der Kuppeldecke und der Stadionausmaße des Raums auf sich wirken lassen konnte. Mit den Fingerspitzen der rechten Hand strich er über einen der Einbände. Streng genommen durfte man sie nicht berühren, aber er zog das Buch ja nicht aus dem Regal – es diente nur zur Beruhigung.
Das Leder war glatt und kühl, der Farbe nach konnte es Hirschleder sein. Die Jahreszahl war auf den Rücken gepunzt: 1863. Reihenweise standen hier die 1863er. Der Bürgerkrieg, dachte Frazier. Und weiß Gott, was damals sonst noch auf der Welt los war. Er war kein Historiker.
Auf der einen Seite des Gewölbes führte eine schmale Wendeltreppe zu einem Laufgang hinauf, von dem aus man das gesamte Gewölbe überblicken konnte. Er ging hin und stieg hinauf. Tausende von blaugrauen Bücherregalen erstreckten sich weit vor ihm, fast 700000 dicke Lederbände mit über 240 Milliarden Namen. Diese Zahlen konnte man nur begreifen, davon war Frazier überzeugt, wenn man an dieser Stelle stand und das alles mit eigenen Augen sah. Der ganze Inhalt war selbstverständlich längst digital gespeichert, und wenn man einer von diesen Computer-Freaks war, war man natürlich beeindruckt von den Terabites an Daten oder wie sie es nannten, aber das war kein Ersatz für einen Aufenthalt in der Bibliothek. Frazier ergriff das Geländer, lehnte sich dagegen und atmete tief und langsam durch.
Nelson Elder verbrachte einen angenehmen Vormittag. Er saß an seinem Lieblingstisch in der Firmenkantine, widmete sich einem Eiweißomelett und las dabei die Morgenzeitung. Nach seiner ausgedehnten Laufrunde und einer heißen Dusche fühlte er sich fit und sah wieder zuversichtlicher in die Zukunft. Es war vor allem der Stand der Desert-Life-Aktien, der sich auf seine Stimmung auswirkte. Im letzten Monat waren sie um 7,2 Prozent gestiegen und am Tag vor einer Höherbewertung um weitere 1,5 Prozent. Es war noch zu früh dafür, dass sich dieser Irrsinn mit Peter Benedict auf den Nettogewinn auswirken konnte, aber Elder wusste mit hundertprozentiger Sicherheit, dass seine Firma die reinste Gelddruckmaschine werden würde, wenn sie niemanden versicherte, dessen Tod unmittelbar bevorstand, und bei Kunden mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung die Prämien dem Risiko entsprechend erhöhte.
Überdies war auch bei Bert Myers krummen Geschäften mit dem Hedgefonds in Connecticut eine Wende zum Besseren eingetreten, und im Juli hatten die Erträge im zweistelligen Bereich gelegen. Elders Zuversicht äußerte sich in einem neuen, aggressiveren Ton gegenüber Investoren und Analysten, den man auch an der Wall Street wahrnahm. Die Einstellung Desert Life gegenüber änderte sich.
Es kümmerte ihn nicht, wie dieser seltsame Benedict an seine Zauberdaten kam, woher sie stammten oder wie so etwas überhaupt möglich war. Er war schließlich kein Moralphilosoph. Elder ging es einzig und allein um Desert Life, und jetzt hatte er einen Vorteil, mit dem keiner seiner Konkurrenten jemals würde mithalten können. Er hatte Benedict die fünf Millionen aus seiner eigenen Tasche bezahlt, um zu vermeiden, dass die Buchprüfer auf eine Überweisung von der Firma aus stießen und Fragen stellten. Er hatte schon genug Probleme wegen Berts Hedgefonds-Abenteuer.
Aber das Geld war gut angelegt. Der Wert seiner persönlichen Aktien war um zehn Millionen gestiegen, ein verdammt guter Anlagegewinn, und das in einem Monat! Elder hatte die Sache mit Benedict für sich behalten. Nicht einmal Bert wusste davon. Die Angelegenheit war zu bizarr und gefährlich. Es war schon schwer genug, dem Leiter der Haftungsabteilung erklären zu müssen, warum er tagtäglich eine US-Gesamtliste aller neuen Antragsteller auf eine Lebensversicherung brauchte.
In diesem Moment kam Bert Myers herein, sah, dass Elder allein aß, und kam grinsend mit erhobenem Zeigefinger auf ihn zu. »Ich kenne Ihr Geheimnis, Nelson!«
Der ältere Mann schrak hoch. »Wovon reden Sie?«, fragte er schroff.
»Sie wollen uns heute Nachmittag sitzenlassen und Golf spielen.«
Lächelnd atmete Elder auf. »Woher wissen Sie das?«
»Ich weiß alles, was hier vor sich geht«, brüstete sich der Finanzchef.
»Alles nicht. Ein paar Sachen habe ich noch im Ärmel.«
»Gehört dazu auch meine Prämie?«
»Sorgen Sie dafür, dass weiter
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