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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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mit Blicken folgen.
    Er wurde nicht enttäuscht. Als er näher kam, wurde eine Tür geöffnet, und sie trat, in einen langen braunen Umhang geschlungen, heraus. Er hatte den Atem angehalten; und als er sie sah, stieß er einen Schwall Luft aus, der eine davontreibende Wolke bildete. Sie sieht so lieblich aus, dachte er. Er ging langsamer, um den Moment zu verlängern, ihr vielleicht ein bisschen näher zu kommen als gewöhnlich, so nahe, dass er den Aufschlag ihrer Augen sah.
    Doch dann geschah etwas Merkwürdiges.
    Sie kam geradewegs auf ihn zu, und er blieb jählings stehen. Sie lief weiter, bis sie nur noch eine Armeslänge von ihm entfernt war. Er fragte sich, ob er träumte, doch als er sah, dass sie weinte, ihr Schluchzen hörte und ihr keuchender, warmer Atem seinen Hals streifte, wusste er, dass alles Wirklichkeit war. Vor Schreck vergaß Luke, nach Beobachtern Ausschau zu halten. »Elizabeth! Was hast du?«
    »Schwester Sabeline hat mir gesagt, dass ich die Nächste bin«, stammelte sie schluchzend.
    »Die Nächste? Die Nächste wofür?«
    »Für die Krypten. Ich soll in die Krypten gebracht werden! Bitte hilf mir, Luke!«
    Er wollte die Hand ausstrecken und sie trösten, doch dies wäre ein unverzeihliches Vergehen gewesen. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Was geschieht denn in den Krypten?«
    »Du weißt es nicht?«, fragte sie.
    »Nein! Sag es mir!«
    »Nicht hier! Nicht jetzt!«, schluchzte sie. »Können wir uns heute Abend treffen? Wenn du aus der Vesper kommst?«
    »Wo?«
    »Ich weiß nicht!«, rief sie. »Nicht hier! Schnell! Mach einen Vorschlag! Schwester Sabeline sucht bestimmt schon nach mir!«
    Er dachte fieberhaft nach. »Also gut. In den Stallungen. Nach der Vesper. Komm dorthin, wenn du kannst.«
    »Ich werde kommen. Ich muss fliehen. Gott schütze dich, Luke.«
     
    Baldwin lief nervös auf und ab, während Prior Felix auf einem mit Rosshaar gepolsterten Stuhl saß. Normalerweise war die Atmosphäre im Empfangsraum des Abts sehr behaglich. Es gab ein wärmendes Kaminfeuer, einen Kelch Wein und einen weichen Stuhl – dennoch war Felix unwohl zumute. Baldwin war unruhig wie eine Fliege in einem überheizten Raum, und seine Besorgnis war ansteckend. Der Abt war von eher gewöhnlichem Äußeren, keineswegs ein stattlicher Mann, und man sah ihm sein heiliges Amt nicht an, denn er strahlte weder heitere Gelassenheit noch abgeklärte Klugheit aus. Hätte er nicht sein mit Hermelin verbrämtes Gewand und das prachtvolle Kreuz eines Abts getragen, hätte man ihn für einen Kaufmann oder Händler aus der Ortschaft halten können.
    »Ich habe um Antworten gebetet, doch ich habe keine erhalten«, klagte er. »Kannst du denn kein Licht in diese dunkle Angelegenheit bringen?«
    »Das kann ich nicht, Vater«, sagte Felix mit seinem schwerfälligen bretonischen Akzent.
    »Dann müssen wir den Rat einberufen.«
    Der Rat des Ordens der Namen war seit vielen Jahren nicht mehr zusammengekommen. Felix konnte sich nur mit Mühe an das letzte Mal erinnern – das musste, so glaubte er, vor zwanzig Jahren gewesen sein, als wieder einmal über eine große Erweiterung der Bibliothek entschieden werden musste. Er war damals noch ein junger Mann gewesen, ein Scholar und Buchbinder, der wegen des berühmten Skriptoriums nach Vectis gekommen war. Aufgrund seiner Klugheit, Geschicklichkeit und Redlichkeit hatte ihn Baldwin, der seinerzeit Prior war, in den Orden aufgenommen.
     
    Baldwin stimmte das erste Gebet der None an, worauf die im Sanktuarium der Kathedrale versammelte Ordensgemeinschaft in wohltönender Harmonie einfiel. Er kannte den ritualisierten Ablauf des Gottesdienstes schon seit Kindertagen auswendig, und so ließ er seine Gedanken während der feierlichen Gesänge zu den Krypten abschweifen. Die None begann mit dem Deus in adiutorium , gefolgt von den Nonen-Chorälen, dem 125., dem 126. und dem 127. Psalm, einem Versikel, dem Kyrie , dem Pater noster , dem Oratorio und dem abschließenden 17. Gebet des heiligen Benedikt. Als der Gottesdienst zu Ende war, verließ er als Erster das Sanktuarium und horchte auf die Schritte der Mitglieder des Ordens der Namen, die ihm in den angrenzenden Kapitelsaal folgten, einen sechseckigen Raum mit spitzem Dach.
    Am Tisch saßen Felix, Bruder Bartholomew, der grauhaarige alte Mönch, der das Skriptorium leitete, Bruder Gabriel, der scharfzüngige Astronom, Bruder Edward, der Medicus, der dem Siechenhaus vorstand, Bruder Thomas, der dicke, träge Verwalter von

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