Die Namen der Toten
Umfassungsmauer weiter. Sein Weg führte ihn zur Rückseite des Schwesterndormitoriums, aus dem junge Frauen eilten, um die Wäsche hereinzuholen.
Da erfasste eine heftige Bö ein Kinderhemd, riss es von der Hanfleine und hoch in die Luft, wo der Wind eine Weile damit spielte, bis er es unweit von Luke ins Gras fallen ließ. Gerade als Luke hingehen wollte, sah er, wie sich ein Mädchen aus dem Kreis der Schwestern löste und über die Wiese eilte, weil es das Hemdchen ebenfalls holen wollte. Im Laufen löste sich sein Schleier, und langes, fließendes Haar kam zum Vorschein, gelb wie Bienenhonig.
Sie ist keine Ordensschwester, dachte Luke, sonst wären ihre Haare geschoren. Sie bewegte sich geschmeidig, war anmutig wie ein junges Reh und ebenso scheu. Denn als sie bemerkte, dass sie direkt auf Luke zulief, blieb sie jählings stehen und ließ Luke nach dem Hemd greifen. Er hob es auf, winkte damit im Regen und lächelte so strahlend wie immer. »Ich habe es!«, rief er.
Er hatte noch nie ein so schönes Gesicht gesehen. Sie besaß ein perfekt geformtes Kinn, hohe Wangenknochen, grünblaue Augen, glänzende Lippen und eine Haut, die ebenso schimmerte wie die Perle, die er einst an der Hand einer edlen Frau in London gesehen hatte.
Das Mädchen war um die sechzehn Jahre alt, der Inbegriff von Jugend und Reinheit. Es stammte aus Newport, war von seinem Vater im Alter von neun Jahren als Dienstmagd verkauft worden und hatte im Haushalt der Countess Isabella in Carisbrooke gearbeitet. Isabella wiederum schickte es zwei Jahre später nach Vectis, als Geschenk an die Abtei. Schwester Sabeline höchstselbst hatte Elizabeth aus einer Schar Mädchen ausgewählt, die man ihnen angeboten hatte. Sie hatte mit Daumen und Zeigefinger das Kinn des Mädchens umfasst und erklärt, dieses hier sei für das Kloster geeignet.
»Danke«, sagte Elizabeth zu Luke. Er fand, dass ihre Stimme wie eine kleine Glocke klang, hoch und hell.
»Leider ist es nass geworden.« Er gab ihr das Hemd. Obwohl sich ihre Hände nicht berührten, spürte er die unsichtbare Kraft, die zwischen ihnen strömte. Er überzeugte sich, dass niemand zu ihnen hersah, und fragte dann: »Wie heißt du?«
»Elizabeth.«
»Ich bin Bruder Luke.«
»Ich weiß. Ich habe dich schon früher gesehen.«
»Ach ja?«
Sie senkte den Blick. »Ich muss zurück.« Und damit rannte sie davon.
Er sah ihr nach, und von diesem Augenblick an wetteiferte Elizabeth in Lukes Gedanken mit Jesus Christus, seinem Herrn und Heiland.
Er machte es sich zur Gewohnheit, bei seinen Spaziergängen hinter dem Schwesterndormitorium vorbeizulaufen, und seltsamerweise tauchte sie stets auf, und sei es nur, um ein Kleidungsstück auf dem Waschstein zu schrubben oder einen Eimer zu leeren. Wenn er sie sah, wurde sein Lächeln breiter, und sie erwiderte sein Nicken und strahlte übers ganze Gesicht. Niemals wechselten sie ein Wort, doch das minderte nicht die Freude, die er bei diesen Begegnungen empfand, und kaum lag eine hinter ihm, dachte er bereits an das nächste Mal.
Natürlich war dieses Verhalten falsch, das wusste Luke, und sicherlich mussten seine Gedanken als unrein bezeichnet werden, aber noch nie zuvor hatte ein anderer Mensch derartige Gefühle in ihm ausgelöst. Elizabeth ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Ein ums andere Mal tat er Buße, und dennoch drängte es ihn mit aller Macht, ihre seidige Haut zu berühren, ein Verlangen, das immer dann am stärksten war, wenn er allein in seinem Bett lag und mühsam das Ziehen in seinen Lenden unterdrückte.
Langsam begann Luke, sich für diese Gefühle zu hassen, und seine wachsende Selbstverachtung tilgte das stete Lächeln aus seinem Gesicht. In seiner Seelenpein verwandelte er sich in ein Spiegelbild der anderen Mönche, die sich mit langsamen Schritten und düsterer Miene durch das Kloster bewegten.
Er wusste genau, dass er Strafe verdiente, und wenn er sie nicht in dieser Welt empfangen würde, dann im Jenseits.
In demselben Augenblick, in dem Baldwin seine Gebete am Grabmal von Josephus beendete, ging Luke am Schwesterndormitorium vorbei und wünschte sich, er möge Elizabeth kurz zu Gesicht bekommen. Es war ein kalter, klarer Morgen, und in seiner Reumut empfand er den beißenden Wind auf seiner bloßen Haut als wohltuend. Der Hof hinter dem Dormitorium war verlassen, und so blieb ihm nichts als die Hoffnung, ein bestimmtes Augenpaar würde ihm aus einem der kleinen Fenster, die das Gebäude mit seinem steilen Dach säumten,
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