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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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ähnlich. Ein Gesicht war so ausdruckslos wie das nächste, alle blickten mit grünen Augen unverwandt auf das weiße Pergament, das vor ihnen lag.
    Die Schreiber waren dem Eingang des Gewölbes zugewandt und saßen Schulter an Schulter an langen Tischen. Der Raum hatte eine verputzte und getünchte Kuppeldecke. Bruder Bertram, ein Baumeister aus dem 11. Jahrhundert, hatte sie eigens so entworfen, dass sie das Kerzenlicht zurückwarf und für mehr Licht sorgte, und alle ein, zwei Jahrzehnte, wenn der Ruß überhandnahm, wurde sie frisch geweißt.
    Bis zu zehn Schreiber saßen an jedem der fünfzehn Tische, die sich bis zur Rückwand des Saales erstreckten. Die meisten Tische waren voll besetzt, aber hier und da war ein Platz frei. Der Grund dafür war offensichtlich, denn die Wand wurde von schmalen Bettstellen gesäumt, auf denen der eine oder andere Schlafende lag.
    Bartholomew ging zwischen den Tischen hindurch und hielt gelegentlich inne, um einem der Schreiber über die Schulter zu sehen. Alles schien in Ordnung. Dann wurde die Tür, die zur Wendeltreppe führte, geöffnet, und junge Mönche brachten die Töpfe mit dem Essen herein.
    An der Rückwand des Saales öffnete Bartholomew eine weitere schwere Tür. Er zündete an der Kerze, die stets neben der Tür stand, eine Fackel an und trat in den ersten der beiden finsteren Räume, die weitaus größer waren als der Saal der Schreiber.
    Die Bibliothek war ein prachtvolles Bauwerk, kühle, trockene Gewölbe, die so weitläufig waren, dass sie im Fackelschein unendlich groß wirkten. Bartholomew lief durch den engen Mittelgang des ersten Gewölbes und atmete den satten, erdigen Geruch der Einbände aus Kuhhäuten ein. Er legte Wert darauf, sich in regelmäßigem Abstand davon zu überzeugen, dass weder Nager noch Insekten durch das steinerne Gemäuer eingedrungen waren, und wollte gerade seinen Überprüfungsgang durch die Bibliothek fortsetzen, als er hinter sich erregte Stimmen hörte.
    Einer der jungen Brüder, ein Mönch namens Alfonso, rief nach seinen Gefährten.
    Bartholomew eilte zurück zum Saal der Schreiber und sah Alfonso neben zweien seiner Mitbrüder hinter dem vierten Tisch von vorn knien. Ein Topf mit Brei war auf dem Boden verschüttet worden, und beinahe wäre Bartholomew ausgeglitten.
    »Was ist?«, rief der alte Mann Alfonso zu.
    Keiner der Schreiber ließ sich stören. Sie waren weiter in ihr Werk vertieft, als wäre nichts geschehen. Doch neben Alfonsos Knien bildete sich eine Blutlache, und ein roter Schwall ergoss sich aus dem linken Auge eines Rotblonden, durch das er sich den Federkiel tief ins Gehirn gestoßen hatte.
    »Jesus Christus, steh uns bei!«, rief Bartholomew. »Wer hat ihm das angetan?«
    »Niemand!«, schrie Alfonso. Der junge Spanier zitterte wie ein frierender Hund. »Ich habe gesehen, wie er es selbst getan hat. Ich habe den Brei ausgeteilt, da hat er es selbst getan!«
     
    Der Orden der Namen kam an diesem Tag erneut zusammen. Keiner von ihnen hatte jemals von einem derartigen Geschehnis gehört, und durch keinen ihrer Vorgänger war ein solches Ereignis überliefert worden. Schreiber wurden geboren, und sie starben, wenn sie alt wurden. In dieser Hinsicht glichen sie allen anderen Sterblichen. Allerdings hielten die Schreiber niemals ihre eigenen Geburtsdaten und Sterbedaten fest. Ihr Tod kam eben, wenn er kam. Trotzdem war dieser Todesfall sehr ungewöhnlich. Der Schreiber war noch jung gewesen und wies keinerlei Anzeichen einer Krankheit auf. Bruder Edward, der Medicus, hatte das bestätigt. Bartholomew sah sich den letzten Eintrag des Mannes an und stellte nichts Außergewöhnliches fest. Es war einfach ein weiterer Name, zufällig in chinesischen Schriftzeichen, jedenfalls hielt Bartholomew es für Chinesisch.
    Der Schreiber hatte eindeutig Selbstmord begangen, eine verabscheuungswürdige und noch dazu völlig unerklärliche Tat. Sie sprachen in dieser Nacht lange darüber, welche Maßnahmen sie ergreifen sollten, fanden jedoch keine Antwort. Gabriel fragte, ob man den Leichnam nach oben bringen und verbrennen sollte, doch sie waren sich uneins. Noch nie war man mit einem Schreiber so verfahren, und sie wollten nicht mit den alten Sitten und Gebräuchen brechen. Schließlich entschied Baldwin, dass der Tote in den Krypten bestattet werden sollte, die neben dem Saal der Schreiber angelegt worden waren. Generationen von Schreibern ruhten in den Katakomben, und auch diese arme Seele sollte dort ihre letzte Ruhe

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