Die Namen der Toten
dass man auf irgendein Gift stieß, wollte aber auch wissen, ob er sich dem Risiko einer HIV-Infizierung ausgesetzt hatte, als er bei der Mund-zu-Mund-Beatmung mit Clives Nasenblut in Berührung gekommen war. Innerhalb weniger Tage hatte er die Ergebnisse. Die gute Nachricht: Clive war negativ, was die Befunde zu HIV und Hepatitis anging. Die schlechte: Alle Befunde waren negativ. Man hatte die Todesursache nicht gefunden.
»Ja, ich habe mir Mr. Robertsons Autopsiebericht angesehen«, sagte Dr. Sofer. »Er ist typisch für das Syndrom.«
Will beugte sich zum Lautsprechertelefon vor. »Inwiefern?«
»Nun, sein Herz sah eigentlich gar nicht so schlecht aus. Keine kritischen Arterienverstopfungen, keine Thrombose, keine histopathologischen Anzeichen eines Myokardinfarkts. Das entspricht genau dem Befund bei den von mir untersuchten Patienten, die an einer durch Stress ausgelösten Kardiomyopathie litten, auch Myokardinsuffizienz genannt.«
Plötzlicher Stress, Angst, Wut, Trauer oder Schock, so behauptete Sofer, könnten zu einem jähen Herzversagen führen. Bei den Opfern handelte es sich um Menschen, die ansonsten gesund, aber einer plötzlichen seelischen Belastung ausgesetzt waren, zum Beispiel durch den Tod eines nahen Verwandten oder starke Angst.
»Doktor, hier spricht Special Agent Lipinski«, sagte Nancy. »Ich habe Ihre Veröffentlichung im New England Journal of Medicine gelesen. Keiner der Patienten, die an diesem Syndrom litten, ist gestorben. Was ist bei Mr. Robertson anders?«
»Eine ausgezeichnete Frage«, erwiderte Sofer. »Ich glaube, dass das Herzversagen durch eine heftige Ausschüttung von Katecholaminen verursacht werden kann, das sind Stresshormone wie das Adrenalin, die als Reaktion auf Stress oder einen Schock vom Nebennierenmark abgesondert werden. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um ein Hilfsmittel zum Überleben, durch das der Organismus auf einen Kampf oder eine Flucht in einer lebensgefährlichen Situation eingestellt wird. Bei manchen Menschen allerdings ist die Ausschüttung dieser Neurotransmitter so stark, dass das Herz nicht mehr kontrahieren kann. Es pumpt kein Blut mehr in den Körper, und der Blutdruck fällt ab. Unglücklicherweise ging bei Mr. Robertson die Herzinsuffizienz mit einer Verkalkung der linken Herzkranzarterie einher. Das führte zu einer schlechten Perfusion der linken Herzkammer, die wiederum eine tödliche Rhythmusstörung auslöste, möglicherweise ein Kammerflimmern, und den plötzlichen Tod. Es stirbt selten jemand an einer Myokardinsuffizienz. Aber es kann vorkommen, und soweit ich weiß, stand Mr. Robertson vor seinem Tod unter akutem Stress.«
»Er hatte eine Postkarte vom Doomsday-Killer bekommen«, sagte Will.
»Nun, dann würde ich sagen, um es einmal laienhaft auszudrücken, Ihr Mr. Robertson hat sich buchstäblich zu Tode gefürchtet.«
»Er wirkte aber nicht ängstlich«, versetzte Will.
»Der äußere Eindruck kann täuschen«, sagte Sofer.
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, legte Will auf und trank den letzten Schluck aus seiner fünften Tasse Kaffee. »Dann ist ja alles klar«, murmelte er. »Der Killer wettet darauf, dass er den Typen umbringen kann, indem er ihn zu Tode ängstigt? Das gibt’s doch nicht!« Aufgebracht riss er die Arme hoch. »Okay, machen wir weiter. Er bringt am 22. Mai drei Menschen um und legt übers Wochenende eine Verschnaufpause ein. Am 25. Mai wird der geheimnisvolle Unbekannte dann wieder tätig.«
Fall Nr. 4: Myles Drake, ein 24 Jahre alter Fahrradkurier aus Queens, ist um sieben Uhr morgens im Finanzdistrikt unterwegs. Eine Bürokraft am Broadway, die einzige Augenzeugin, schaut aus dem Fenster und sieht ihn auf dem Gehsteig an der John Street stehen, wo er seinen Rucksack umschnallt und sich aufs Rad schwingen will, als ein dunkelblauer Wagen über die Bordsteinkante rast, ihn niederwalzt und weiterfährt. Sie ist zu hoch oben, um die Autonummer oder die Marke und das Baujahr zu erkennen. Drake erleidet einen Milz-und Leberriss und stirbt auf der Stelle. Das Auto, das an der Vorderseite beschädigt sein müsste, bleibt trotz umfangreicher Nachfragen bei Karosseriewerkstätten im ganzen Einzugsgebiet unauffindbar. Myles wohnte bei seinem älteren Bruder in Flushing Meadows und war allen Aussagen zufolge ein anständiger Kerl. Keine Vorstrafen, erstklassige Arbeitszeugnisse etc. Keinerlei Verbindung zu den anderen Opfern, weder direkt noch indirekt, auch wenn niemand mit Sicherheit sagen konnte,
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