Die Namen der Toten
Bücher fertiggestellt hatte und kaum noch Platz in seiner Kammer war, beschloss Josephus, dass die Werke einen eigenen Aufbewahrungsort brauchten.
Der Abt zog einige Handwerker von den Bauarbeiten am Kloster ab und ließ sie auf der Rückseite des Skriptoriums, gegenüber von Octavus’ Kammer, eine Grube ausheben. Die Kopisten, die im großen Saal arbeiteten, murrten über das ständige dumpfe Hacken und Schaufeln, Octavus aber schien den Lärm nicht einmal wahrzunehmen.
Nach einiger Zeit verfügte Josephus über einen Bibliotheksraum für Octavus’ immer umfangreicher werdendes Werk, ein kühles, trockenes Steingewölbe. Ubertus, der die Arbeit der Steinmetze und Maurer selbst beaufsichtigt hatte, wusste, dass sich sein Sohn hinter der verschlossenen Tür aufhielt, hatte jedoch keinerlei Interesse daran, einen Blick auf den Jungen zu werfen. Er gehörte jetzt Gott, nicht mehr ihm.
Josephus achtete auf strenge Geheimhaltung im Umgang mit Octavus. Nur Paulinus und Magdalena wussten über seine Tätigkeit Bescheid, und von diesem inneren Kreis abgesehen, hatten nur die wenigen Mädchen, die für ihn sorgten, direkten Kontakt mit ihm. Natürlich gab es in einer kleinen Gemeinschaft wie dem Kloster Gerüchte über geheimnisvolle Texte und heilige Werke, mit denen der junge Mann zu tun hatte, den die meisten nicht mehr zu Gesicht bekommen hatten, seit er ein kleiner Junge gewesen war. Doch Josephus war so beliebt und geachtet, dass niemand die Frömmigkeit und Redlichkeit seines Tuns in Frage stellte. Es gab vieles auf der Welt, das die Bewohner von Vectis nicht verstanden, und genauso verhielt es sich mit dieser Angelegenheit. Die Ordensleute vertrauten darauf, dass Gott und Josephus sie beschirmten und ihnen den Weg des Heils wiesen.
Am 7. Julius wurde Octavus achtzehn Jahre alt.
Bei Tagesanbruch erleichterte er sich in einer Ecke seiner Kammer, begab sich dann geradewegs an sein Schreibpult und tauchte zum ersten Mal an diesem Morgen den Federkiel ein. Stets schrieb er genau an der Stelle auf dem Blatt weiter, an der er aufgehört hatte. In schweren, schmiedeeisernen Ständern steckten etliche Kerzen, die weitergebrannt hatten, während er schlief, und tauchten das Pult in flackerndes gelbes Licht. Er blinzelte einige Male, um seine trockenen Augen zu befeuchten, und machte sich ans Werk.
Ein neuer Name. Mors. Dann ein weiterer Name. Natus. Und so weiter und so fort.
Am frühen Morgen klopfte die Novizin Mary an der Tür, hielt kurz inne, obwohl sie wusste, dass Octavus niemals auf ein Klopfen reagierte, und betrat die Kammer. Mary war ein einheimisches Mädchen, das aus dem südlichen, der Normandie zugewandten Teil von Vectis stammte. Ihr Vater war ein mittelloser Bauer, der zu viele Mäuler zu stopfen hatte und der hoffte, seiner Tochter erginge es als Dienerin Gottes besser denn als arme Weizendrescherin. Dies war ihr vierter Sommer im Kloster. Schwester Magdalena hielt sie für ein eifriges Mädchen, das flink seine Gebete lernte, aber für ihren Geschmack dennoch ein bisschen zu ausgelassen war. Mary besaß ein fröhliches Wesen und trieb gern Schabernack mit den anderen Novizinnen, indem sie ihre Sandalen versteckte oder ihnen eine Eichel ins Bett legte. Solange sich ihr Benehmen nicht besserte, zögerte Magdalena, ihr das Ordensgelübde abzunehmen.
Mary brachte Octavus ein leichtes Mahl, ein Tablett mit braunem Brot und einem Stück Schinken. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen, die ängstlich waren und Octavus nie ansprechen würden, plapperte sie auf ihn ein, als wäre er ein ganz normaler junger Mann. Sie stand vor seinem Pult und versuchte ihn dazu zu bringen, sie anzuschauen. Sie hatte noch immer ihr langes kastanienbraunes Haar, und es sah unter dem Schleier hervor. Wenn sie Nonne wurde, würde man ihr Haar kurz schneiden, was sie sich einerseits wünschte, andererseits aber auch fürchtete. Sie war groß und grobknochig, schlaksig wie ein Fohlen und sehr hübsch mit ihren ewig apfelroten Wangen.
»Nun, Octavus, da droben ist ein schöner Sommermorgen, willst du das nicht wissen?«
Sie stellte das Tablett auf das Pult. Manchmal rührte er sein Essen nicht einmal an, aber sie wusste, dass er Schinken mochte. Er legte den Federkiel zur Seite, biss in das Brot und schob ein Stück Fleisch nach. »Weißt du, weshalb du heute Schinken bekommst?«, fragte sie. Er kaute gierig und starrte dabei unverwandt auf den Teller. »Weil du heute Geburtstag hast, deswegen!«, rief sie. »Du bist achtzehn
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