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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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Knaben, die mit dem Heranreifen ihre zarten Gesichter verloren, wurde Octavus’ Kinn nicht kantig und seine Nase nicht breiter. Unerklärlicherweise behielt er seine jungenhaften Züge, allerdings widersetzte sich ja sein ganzes Dasein jeglicher Erklärung. Auch sein feines Haar blieb hell und rötlich braun wie zu seinen Kindertagen. Von Zeit zu Zeit ließ Paulinus den Bader rufen, damit er seine Locken stutzte, während er schrieb oder, besser noch, schlief; dann war der Boden mit weichen Haarbüscheln übersät, bis eines der Mädchen kam, die sich um ihn kümmerten, und sie zusammenfegte.
    Die Mädchen, die unter dem Eid der Verschwiegenheit zu ihm gehen, ihn verpflegen und seine Abfälle wegbringen durften, bewunderten seine stille Schönheit und absolute Konzentration, selbst wenn eine kecke, stets zu Streichen aufgelegte Novizin, eine Fünfzehnjährige namens Mary, manchmal umsonst versuchte, seinen Blick auf sich zu ziehen, indem sie einen Kelch fallen ließ oder mit einem Teller klapperte.
    Doch nichts konnte Octavus von seinem Werk ablenken. Zu Hunderten, Tausenden und Zehntausenden strömten die Namen vom Federkiel auf die Seiten.
    Paulinus und Josephus standen oft hinter ihm und sahen wie in einem Tagtraum seinem fieberhaft kratzenden Federkiel zu. Zwar waren zahlreiche Eintragungen in lateinischen Buchstaben geschrieben, manche aber auch nicht. Paulinus erkannte arabische, aramäische und hebräische Schriftzeichen, aber es gab noch andere, die er nicht entziffern konnte. Die Geschwindigkeit, mit der der Junge schrieb, war atemberaubend, und dennoch wirkte er nie angespannt oder um Eile bemüht. Wenn der Federkiel stumpf wurde, reichte Paulinus ihm einen neuen mit frischgeschnittener Spitze, damit er weiterhin seine kleinen, eng aneinanderstehenden Buchstaben zeichnen konnte. Er beschrieb die Seiten so dicht, dass auf den Blättern mehr Schwarz als Weiß zu sehen war. Und wenn er mit einer Seite fertig war, drehte er sie um und schrieb auf der Rückseite weiter, als verfüge er über einen natürlichen Sinn für Sparsamkeit und Effizienz. Erst wenn beide Seiten voll waren, griff Octavus nach einem frischen Pergamentblatt. Paulinus, der Arthritis hatte und ständig unter Magenkrämpfen litt, musterte jede fertige Seite mit dem ängstlichen Gedanken, ob er auf einen Namen stoßen würde, der für ihn von besonderem Interesse war: Paulinus von Vectis zum Beispiel.
    Manchmal sprachen Paulinus und Josephus darüber, wie wunderbar es wäre, wenn man den Jungen fragen könnte, was er von seiner Tätigkeit hielt, und eine vernünftige Erklärung von ihm bekäme. Doch ebenso hätten sie eine Kuh darum bitten können, ihnen zu erklären, was ihr das Dasein bedeutete. Octavus sah Paulinus und Josephus niemals direkt an, reagierte nicht auf ihre Worte, zeigte nicht die mindeste Gefühlsregung und sprach kein Wort. Im Lauf der Jahre hatten die beiden alternden Mönche oftmals Dispute über Octavus’ Emsigkeit und deren Bedeutung im biblischen Kontext geführt. Gott, der Allwissende und Ewige, kennt alle Erscheinungen aus Vergangenheit und Gegenwart, aber auch der Zukunft, darin waren sie sich einig. Alles Geschehen auf der Welt ist vorbestimmt durch die ewige Kraft des göttlichen Plans, und offenbar hatte der Schöpfer den auf wundersame Weise geborenen Octavus zu seinem leibhaftigen Federkiel auserkoren, auf dass er aufzeichnete, was da werden sollte.
    Auch die Schriften des Kirchenvaters Augustinus studierten sie eifrig. Denn Paulinus besaß Kopien der dreizehn Bücher, die der heilige Augustinus geschrieben hatte, die Confessiones . Die Mönche von Vectis hielten diese Bände in hohen Ehren, schließlich war Augustinus ihnen ein großes geistiges Vorbild, übertroffen nur vom heiligen Benedikt. Josephus und Paulinus brüteten oft über den Büchern, und besonders bei einem Absatz meinten sie fast zu hören, wie der ehrwürdige Heilige über die Zeilen hinweg zu ihnen sprach: »Gott entscheidet über die ewige Bestimmung eines jeden Menschen. Sein Schicksal verläuft nach Gottes Beschluss.«
    War Octavus nicht ein offenkundiger Beweis für die Wahrheit dieser Aussage?
    Zunächst bewahrte Josephus die in Leder gebundenen Bücher in einem Wandregal in Octavus’ Kammer auf. Als der Junge acht wurde, hatte er zehn dicke Bände vollgeschrieben, und Josephus ließ ein zweites Regal anfertigen. Mit zunehmendem Alter wurde seine Hand flinker, sodass er schließlich zehn Bücher pro Jahr schrieb. Als er mehr als siebzig

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