Die namenlose Schoene
halten.
Das war doch albern für einen siebenunddreißig Jahre alten Mann, der seine stürmische Zeit hinter sich hatte - ebenso eine Heirat und eine Scheidung. Außerdem hatte er sich geschworen, keine Beziehung mehr einzugehen.
Für die langen Beine hatte er nicht genug Platz und wurde nach einiger Zeit unruhig. Dabei stieß er jedoch gegen Emmas Bein. Es durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag. Manchmal lachten die wenigen Zuschauer, doch Tucker bekam nichts mit. Und als sich das Paar auf der Leinwand zum ersten Mal liebevoll küsste, hatte seine Unruhe nichts mehr mit den langen Beinen zu tun.
Der Film schien endlos zu dauern. Endlich schwoll die Musik an, und das Liebespaar flog mit einem Jet in den Sonnenuntergang hinein.
Tucker seufzte erleichtert, doch Emma wischte eine Träne weg.
„Alles in Ordnung?”
„Aber ja. Ich liebe ein glückliches Ende.”
„Schade, dass es im wirklichen Leben nie so ausgeht”, murmelte er.
„Glauben Sie nicht daran, dass Liebe alles besiegt?” fragte sie unschuldig.
„Nein. Ich glaube daran, dass jeder so gut wie möglich überlebt.”
„Tucker”, tadelte sie. „Es geht doch wohl um mehr als ums Überleben.”
Im Saal wurde es hell. Emma sah Tucker ungläubig an. Wie es wohl war, keine Vergangenheit zu besitzen? Würde Emma sich verändern, wenn ihr einfiel, wer sie eigentlich war? Oder blieb sie bei ihrer Idealvorstellung der Welt?
Anstatt zu antworten, stand er auf, setzte den Hut auf und zog die Jacke an. Dann half er Emma in ihren Mantel. Sie bedankte sich, und er zog die Finger nicht sofort unter ihrem Haar vom Kragen zurück.
Es war herrlich weiches, seidiges Haar. Er sah förmlich, wie es sich auf seinem Kopfkissen ausbreitete und …
Lautlos fluchend klappte er seinen Sitz hoch.
Sie gingen schweigend zu Tuckers Wagen. Emma blickte hoch.
Unzählige Sterne funkelten am schwarzen Himmel. Der Wind spielte mit ihrem Haar. Tucker widerstand dem Wunsch, es zu berühren, und öffnete die Beifahrertür.
Er stieg ein, startete jedoch den Motor nicht. Sein Wagen hatte nicht wie der Streifenwagen Schalensitze, sondern Sitzbänke, und Emma war ihm ganz nahe. „Emma, im Restaurant wollte ich nicht so …”
„So schroff sein?” ergänzte sie für ihn. „Es ist schon gut, Tucker. Sie haben Recht. Ihr Leben geht mich nichts an. Ich denke nur gelegentlich nicht daran, weil ich mit Ihnen im selben Haus wohne und Sie … alles über mich wissen.”
Er erriet, dass sie etwas Bestimmtes meinte. „Stört es Sie, dass ich weiß, dass Sie Jungfrau sind?”
„Nein … ja … Ich weiß nicht”, murmelte sie verlegen. „Wahrscheinlich glauben Sie, ich müsste deshalb besonders beschützt werden.”
„Auch früher hat Sie jemand beschützt, Emma. Der Arzt meint, Sie wären Anfang zwanzig. In der heutigen Zeit sind Frauen nur noch selten Jungfrauen, wenn sie die High School hinter sich haben. Ich weiß, dass Sie zu jemandem gehören.”
Sie schüttelte den Kopf. „Sie wissen so wenig wie ich. Manchmal denke ich nachts darüber nach, woher ich komme. Wollen Sie hören, was ich dann glaube?”
„Was?”
„Vielleicht bin ich eine Prinzessin, die in einem Turm als Geisel gefangen gehalten wurde. Ich entkam und floh nach Storkville.”
Sie lächelte, und jetzt strich er ihr das Haar von der Wange und beugte sich zu ihr. „Ich würde gern Ihre Geschichte glauben” , sagte er heiser.
„Glauben Sie daran, Tucker.” Sie hob den Kopf leicht an, und er konnte nicht widerstehen.
Obwohl sie sich sagte, dass sie keinen Kuss erwarten und sich auch keinen wünschen sollte, sehnte sie sich nach Tucker und seiner Leidenschaft. Doch er erforschte nur kurz ihren Mund, bevor er sich wieder zurückzog.
Im ersten Moment dachte sie, er würde auch diesen Kuss für einen Fehler halten. Doch dann hörte sie Stimmen und sah, dass sich ein Paar näherte. Tucker hatte die Leute schon vor ihr bemerkt.
Emma erkannte die beiden, die im Kino einige Reihen vor ihnen gesessen hatten. Das Mädchen hatte dichtes, kastanienbraunes Haar, das glatt auf den Rücken fiel und im Wind wehte. Plötzlich setzte in Emmas Kopf hämmernder Schmerz ein. Sie fasste sich an die rechte Schläfe.
„Emma, was ist denn?”
Sie hörte Tuckers Stimme wie aus weiter Ferne, verstand jedoch nicht, was er sagte. Vor ihren Augen war alles schwarz, bis sie ein Bild sah. Sie bürstete kastanienbraunes Haar und flocht es zum Zopf. Der Schmerz verstärkte sich, als sie sah, wie sie ein blaues Band um den
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