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Die Nanowichte

Die Nanowichte

Titel: Die Nanowichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Harman
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kratzende Scharren von Vogelkrallen, und dann tauchte in der Klappe, über der die Aufschrift ›Ergebnisse‹ stand, der Kopf einer Taube auf. Aufgeregtes Gemurmel lief durch das mittlerweile gut besuchte Weltforum Guldenburg.
    Doz Ysher schnappte sich den Vogel, öffnete das Röhrchen, das an sein Bein geschnallt war, zog ein Blatt Pergament heraus und strich es glatt.
    »Die Ergebnisse aus dem ersten Rennen von Dschell d’Nham. Als erster ging durchs Ziel … Das gibt’s doch nicht!« Gespannte Stille herrschte plötzlich um Wettforum Guldenburg. »Leck mich … Kugelblitz! Also so was!«
    Ein Murren erfüllte den Raum, Köpfe wurden geschüttelt, Wettscheine zerrissen, und allen Anwesenden stand – wieder einmal – der finanzielle Ruin drohend vor Augen. Nur einem nicht.
    »Ich würd das Geld nehmen und verschwinden«, empfahl der Buchmacher Quintzi, weil der sich nicht abwimmeln lassen und auch noch die Ergebnisse des zweiten Rennens erfahren wollte. »Sie haben heute schon genug Glück gehabt. Mehr gibt’s nicht.«
    Eine halbe Stunde später kratzte sich Doz Ysher entgeistert Kopf. Die nächste Taubenpost war eingetroffen. Und der mußte er entnehmen, daß Schwarze Tulpe haushoch gewonnen hatte und zehn Längen vor dem Favoriten durchs Ziel gegangen war.
    Widerstrebend setzte der Buchmacher einhundertdreiundfünfzig Silbergroschen auf diesen hoffnungslosen Außenseiter Höckriger Hampel. Er war verbittert. Der Tag hatte sich doch nicht so gut angelassen, wie er anfänglich geglaubt hatte.
     
    Auf einem kleinen Stück öden, unbebauten Lands, nur wenige hundert Meter vom Wettforum Guldenburg entfernt, hatte sich eine Gruppe von Leuten versammelt, die alle verschleiert waren, die sich immer wieder vorsichtig umsahen, die ängstlich jeden Zentimeter Boden untersuchten, bevor sie einen Schritt machten … Die Jünger der Meidgenossenschaft waren es, die Mitglieder der Kongregation der Kleingläubigen Dauerunke, die da furchtsam auf ein hastig errichtetes Freudenfeuer zuschlichen, über dem, mit schweren Ketten dreifach gesichert, ein Kessel hing. Dreimal im Jahr kamen sie aus ganz Guldenburg hier zusammen, um im Stande paranoider Hypersensibiltät drei Tage lang das Fest des Seligen Obskurantius, des auf ewig Verborgenen, zu feiern.
    Die Jünger der Kleingläubigen Dauerunke lebten im festen, unverbrüchlichen Glauben, daß ihr Wohl, das leibliche wie das seelische, so beschaffen war wie die hauchfeine Haut ihrer unsterblichen amphibischen Gottheit: genauso leicht verletzbar wie diese und ebenso schwer wieder instand zu setzen. Nur bei Vermeidung der Gefahren des täglichen Lebens – etwa der sprichwörtlichen Pest – konnte es gelingen, einen Zustand zu erreichen, der dem Nirwana glich, und über und durch diesen das letzte und eigentliche Ziel: die Unsterblichkeit. Sich unnötig einem Risiko auszusetzen, galt als denkbar schwerster Fall von Gotteslästerung – weswegen man vor fünf Jahren (nachdem man erkannt hatte, daß Straßenräuber hauptsächlich im Schutze der Dunkelheit aktiv wurden) das Fest des Seligen Obskurantius, das man nach althergebrachtem Brauch immer nachts gefeiert hatte, auf den Vormittag, auf die Zeit kurz vor dem zweiten Frühstück, verlegt hatte. Daß zu dieser Tageszeit das Freudenfeuer und die Sicherheitskerzen nicht so hübsch leuchteten wie vordem, das war ein Verlust, den man angesichts des dadurch erzielten Gewinns an Sicherheit gern in Kauf nahm.
    Aber unglücklicherweise gab es auch Gefahren, die sich kaum vermeiden ließen. Nicht zuletzt die Gefahr, schädlicher Stellarstrahlung ausgesetzt zu sein, einer Strahlung, die vom Himmel herniederbrannte, die Sommersprossen verursachte und mit ihnen das Risiko, ausgelacht zu werden. Aber diese Gefahr war den Jüngern des Seligen Obskurantius nicht neu. Der Selige selbst hatte sie, neben einer ganzen Reihe anderer Gefahren, vor dem Risiko gewarnt, das man einging, wenn man allzulange ungeschützt in der Sonne herumlag. Woraufhin er sich auf ewig verborgen hatte und damit den, wie er sagte »einen und wahren Weg« gegangen war, der zur vollständigen Risikolosigkeit und damit zur Unsterblichkeit führt: Er hatte sich in eine stabile Holzkiste gelegt, die Kiste vernageln und hinter dem Bretterverschlag unter der Kellertreppe verräumen lassen. Etwa einhundert Jahre nachdem der Selige eingemacht worden war, hatte er, um eine Schädigung seiner Stimmbänder zu vermeiden, den feierlichen Schwur geleistet, in der langen Zeit der

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