Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nanowichte

Die Nanowichte

Titel: Die Nanowichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Harman
Vom Netzwerk:
dahinstapfte und brummelnd über den Zustand der Welt heutzutage schimpfte, plötzlich wie angewurzelt stehen: Sie hatte eine zwielichtige Gestalt bemerkt, die einen großen Sack zum Ufer schleifte.
    Das Herz ging ihr auf, sie ließ den Übeltäter nicht aus Augen, starrte angespannt ins Dämmerlicht und nahm durch die Gläser ihres Kneifers wie durch eine Lupe jedes noch so belanglose Detail in sich auf. Voll Schadenfreude legte sie in ihrem Gedächtnis die Fakten ab, daß es sich bei dem Täter unzweifelhaft um einen dunkelhaarigen, eher mollig gebauten Teenager handelte. Und noch etwas hielt sie fest, eine Vermutung, die sich aus ihren verdeckten Ermittlungen ergab: Der Täter war entweder unglaublich dumm oder ortsfremd. Oder beides.
    Jeder, der auch nur für fünf Pfennige Hirn im Kopf hatte, hätte umgehend begriffen, daß es absolut unmöglich war, in diesem verschlammten Rinnsal etwas verklappen zu wollen.
    Nur einmal pro Woche stieg die Flut so hoch, daß diese Stelle mit Wasser bedeckt war. Und auch dann allenfalls nur einen Zoll hoch und lediglich etwa zehn Minuten lang. Aber das kümmerte Frau Ausrichter nicht im mindesten. Für sie war das sogar ein Vorteil, das verbesserte ihre Position um ein Vielfaches. So hatte sie einen sicheren Beweis, einen echten, handfesten, unwiderleglichen Beweis!
    Sie hüpfte geradezu, hüpfte so hoch, wie sie lange nicht mehr gehüpft war, machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte davon, die Handtasche fest an ihr neugieriges Herz gedrückt. Sie wollte im Anmelderaum einer gewissen Behörde vorstellig werden, deren Aufgabe die Sicherung der Natürlichen Ordnung war.

 
V
FEUERKUGELN, GRÖSSE XL
     
     
    »Psssst!« zischelte es gereizt: ohne Zweifel war die Stimme weiblich.
    Wachtmeister Ryffel, Beamter des Amtes für Natürliche Ordnung in Guldenburg, schüttelte den Kopf und stapfte weiter an der riesigen alten Scheune entlang. Er haßte es, nachts am Ufer des Müllbachs Streife zu gehen, zu dieser Zeit surrten dort viel zu viele und sehr merkwürdige Insekten durch die Gegend: Viecher mit schwirrenden Flügeln und Beinen und ohne einen Funken Orientierungssinn; Viecher mit nadelspitzen Stech- und Saugrüsseln, die Blut auf eine Meile Entfernung riechen konnten; Viecher, die anscheinend nur zu dem einen und einzigen Zweck geschaffen waren: so viel Leid und Schmerz zu verursachen wie irgend möglich. Und dann waren da auch noch diese bleichen Dinger, die in der Schlammrinne hausten, die sich Müllbach schimpfte. Schaudernd schlug er nach einem Insekt und verfluchte sein Schicksal: Immer erwischte es ihn auf dieser Schicht, jedesmal wurde er zerstochen. Sicherheitshalber landete er einen Präventivschlag auf seinem Nacken, in der Hoffnung, damit irgendeinem Möchtegern-Moskito die Vorfreude auf den kleinen Schlürfspaß blitzschnell und ein für allemal zu verderben.
    »Pssssssst!«
    Ryffel sah sich ängstlich um und streckte die Hand aus, um jedes Ding mit Insektenflügeln, das sich im Umkreis von hundert Fuß blicken ließ, radikal auszurotten. Ein Schweißtropfen lief ihm den Hals hinunter.
    »Psssssssssssst!«
    Der Wachtmeister fuhr herum, zog den Schlagstock aus dem Halfter und ballte die Fäuste. Etwas, das so laut Pssst machte, brauchte sich nicht einzubilden, es könnte ihm unangemeldet die Mandibeln in die Drosselvene schlagen! Ganz sicher nicht!
    »Sind Sie taub?« flüsterte eine kleine Frau, die im Türschatten einer alten Scheune stand und ihn durch die annähernd opaken Gläser eines Kneifers anlinste. »Falls es Ihnen entgangen sein sollte: Ich habe Sie ange pssssst et!«
    »Ich hab gedacht, Sie wären ein … Die Insekten … Ach, hat nichts zu sagen«, stotterte Ryffel anstelle einer Erklärung und entspannte sich. Kein Insekt – er war erleichtert. Heimlich bohrte ein hungriges Insektenpaar seinen Nacken an und begann munter zu schlürfen.
    »Wollen Sie damit etwa sagen, ich bin ein Insekt?« fuhr ihn Frau Ausrichter (um niemand anderen handelte es sich bei der kleinwüchsigen Gestalt) giftig an.
    »Nein, nein … Kann ich etwas für Sie tun?« knurrte der Wachtmeister zuvorkommend und funkelte die Frau wütend an.
    »Da kann wohl eher ich was für Sie tun, junger Mann«, schnaubte sie wichtigtuerisch. »Ich kann Ihnen einen handfesten Beweis liefern.«
    »Ein Beweis? Wofür?« Ryffel durchforschte sein Gedächtnis und rekapitulierte, in welchen Angelegenheiten gegenwärtig Ermittlungen angestellt wurden. Da war einmal die Kindesentführung in der

Weitere Kostenlose Bücher