Die Nanowichte
knirschte bedenklich), beugte sich vor und versuchte seine Zehen zu berühren. Seit etwa dreißig Jahren versuchte er das und verfehlte auch jetzt wieder um beinahe einen Meter sein Ziel. Wie lange war es jetzt her, daß er … Wann hatte er es zum letzten Mal geschafft? Schwermütig betrachtete er die vierzig Jahre alten Socken, in denen seine Füße seit so langer Zeit schon steckten …
Der Papagei quarrte, fluchte vor sich hin und rieb sich unglücklich den Hals. Dann flatterte er auf seine Sitzstange und zog die Vorhänge auf.
Das war der Moment, da Quintzi hemmungslos losschrie.
In kalten Strömen lief ihm der Angstschweiß zwischen den Schulterblättern den Rücken hinunter, er riß die Vorhangfetzen zur Seite und starrte auf den glutheißen Feuerball am Himmel. Sein Herz krampfte sich zusammen, als er sah, daß die Position des Gestirns nicht die den Naturgesetzen entsprechende Position war. Und einen Moment lang glaubte er sogar, es blinzele ihn vorwurfsvoll an.
Schreiend schlug er die Hände vor die Augen und fuhr vom Fenster zurück. Er zitterte, purpurrote Lichtpunkte leuchteten auf, erloschen wieder. Ein Zeichen! Es konnte nur ein Zeichen sein! So früh am Morgen durfte die Sonne noch nicht so hoch am Himmel stehen! Das mußte etwas bedeuten, etwas Entscheidendes, etwas Entsetzliches! Aber was? Etwa, daß die Berge des Gagalaya einstürzten? Daß die Grundfesten des Firmaments aus dem Leim gegangen waren und daß es deshalb den Großen Sternenlenker um dreißig Grad aus der Bahn gekippt hatte? Daß das Chaos herabregnen würde auf die güldene Stadt Axolotl? Wieviel Zeit blieb noch zum Packen?
Er starrte seine Sonnenuhr, ein sehr dekoratives Schmuckstück, vorwurfsvoll an: Ein einzelner Schattenfinger zeigte beharrlich die Stunde an, die normalerweise ›Gabelfrühstück‹ bedeutete. Aber dann wuchsen dem Finger Flügel und Krallen, er blickte ihn skeptisch an, und Tiemecx stieß herab und wollte sehen, was das ganze Theater eigentlich sollte, zeigte auf seinen Hals, wand und krümmte sich und machte ein melodramatisches Getue.
Panische Furcht packte Quintzi, als ihm klar wurde, daß er eine Vision hatte, eine verteufelt unheilvolle Vision. Die Sonne, die Sonnenuhr und das rätselhafte Gebaren des Papageis: Das war der glasklare Blick in die Zukunft, die Schrift an der Wand, das große Menetekel. Wie der Blitz machte er auf dem Absatz kehrt und steuerte auf einen Rattantisch los, auf dem eine großformatige Zeitschrift lag.
Der Papagei schnarrte mißbilligend, er hatte eingesehen, daß er im Moment nicht mit dem Mitgefühl seines Herrn rechnen konnte. Resigniert zuckte er die Achseln, flatterte zum Futternapf mit den Sonnenblumenkernen und schüttelte den Kopf, weil das rätselhafte Kitzeln im Hals nicht aufhören wollte.
Hinter ihm schrie Quintzi wie ein Wilder, weil ihm blitzartig klargeworden war, was seine Vision bedeutete. Aufgeregt hatte er die Zeitschrift durchgeblättert, und da – da stand es! Ganz detailliert stand es da, hier, in diesem tabellarischen Verzeichnis, in der Gratisbeilage des aktuellen Monatshefts von Die Gute Sicht. Das Magazin für den Seher. Sonne außer Kontrolle, Sonnenuhr zeigt chronologisch abwegige Reaktion, Papagei durchgedreht – alles Indizien für, wie hier stand, ›Zeitenende, Anbruch der Wirrnis, Ausbruch des Chaos‹! Kurz gesagt: Gefahr im Verzug, höchste Gefahr! Und zwar jetzt, hier und heute!
War er der einzige, der das sah? Wußte sonst noch jemand Bescheid? Zum ersten Mal im Leben machte er eine Erfahrung von visionärer Bedeutung! Quintzi schwirrte der Kopf, er stürzte ans Fenster und krallte sich am Fenstersims fest, so fest, daß sich die Fingerknöchel weiß färbten. Er mußte die Menschen warnen. Es war seine Pflicht. Der Himmel hatte ihm (erstmalig!) das Erlebnis visionärer Weitsicht beschert, er mußte die Kunde weitertragen, als treuer axolotischer Bürger war er dazu verpflichtet!
Er sah auf die Straße hinab, holte Luft und … Erstaunlich, wie viele Menschen so früh am Morgen schon auf den Beinen waren, arglos ihren vormittäglichen Geschäften nachgingen, im Café gegenüber ihr zweites Frühstück einnahmen … Man mußte diese Menschen warnen! Mußte man doch, oder?
Und jetzt, zum ersten Mal an diesem schicksalsschweren Morgen, kamen ihm leise Zweifel. Seine Vision hatte sich abgespielt, ohne daß er jene Stimmen im Kopf gehört oder jene blitzenden Lichter gesehen hätte, von denen man ihm immer erzählt hatte. Und die Leute
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