Die Narbe
dafür, im Gegenteil. Als ob die Person ganz bewusst eine, in Anführungszeichen, schöne und einzigartige Narbe hätte haben wollen, wie eine Zeichnung nicht auf , sondern direkt in die Haut.«
»Was meinten Sie damit: ›Es gibt keinen medizinischen Grund dafür?‹«
»Nun ja, allgemein gesprochen versucht normalerweise jeder Mediziner, eine Narbe so klein wie möglich zu halten, weil sie im Vergleich zu unserer Haut ein vielfach erhöhtes Risiko an Infektionen, Verletzungen etc. birgt und nicht gerade eine Zierde für die Optik darstellt. Aber hier ist das genaue Gegenteil passiert. Als hätte jemand genau das so gewollt. Als würde eine merkwürdige Art von Ästhetik die Regeln der Chirurgie austanzen. Eine Art von Zeichnen mit Skalpell, so würde ich es ausdrücken.«
»Haben Sie so etwas schon einmal zuvor gesehen?«
»Nein. Ich habe darüber mit einem Kollegen gesprochen. Auch der schüttelte nur den Kopf. Vielleicht handelt es sich um einen Fetisch. Aber vielleicht wissen Sie besser, was an bizarren Modeerscheinungen und Trends unterwegs ist.«
»Können Sie beurteilen, wann das geschehen ist?«
»Ich kann jetzt und hier nur feststellen, dass der Heilungsprozess offensichtlich normal verlaufen ist. Anders gesagt: Der Eingriff ist nicht in den letzten Wochen durchgeführt worden. Um den Zeitraum präziser zu bestimmen, müsste ich aufwendigere Untersuchungen machen, für die ich in diesem, von jenem Detail abgesehen, eindeutigen Fall keine Notwendigkeit sehe. Ich arbeite schließlich nicht in einem medizinischen Kuriositätenkabinett.«
»Wie Sonnenstrahlen also«, wiederholte Gerald, mehr zu sich selbst. Diese Vorstellung ließ ihn nicht los, gleichzeitig fiel ihm keine weitere Frage ein.
»Hören Sie«, sagte Dr. Wembler und wirkte plötzlich kurz angebunden, »Sie bekommen ja unseren Bericht. Ich werde ein paar Fotos von der Stelle schießen, einverstanden? Es bleibt unter dem Strich dabei, dass die Obduktion die Todesursache durch den Sturz zweifelsfrei bestätigt. Damit ist die Sache für uns abgeschlossen.«
»Danke.« Gerald hielt den Telefonhörer unverändert in der Hand. Nach einem Moment setzte er wieder an: »Darf ich, wenn mir noch etwas einfallen sollte …« Er brach ab, weil sein Gesprächspartner bereits aufgelegt hatte.
Eine Minute später kam Batzko zurück und traktierte mit steigender Ungeduld die Tastatur. Er fluchte bei jedem Fehler, der ihn zu einer Korrektur zwang. Gegen halb eins lehnte er sich zurück und streckte die Arme in die Höhe.
»Auf in die Kantine, Bleichgesicht. Heute ist Schnitzeltag.«
»Ich gehe heute nicht. Ich muss etwas in der Stadt erledigen.«
»Windeln kaufen?«
»Du nervst kolossal.«
»Logo«, sagte Batzko. Er stand auf, legte die Hände in Höhe des Bauches ineinander und tat so, als würde er ein Baby im Arm schaukeln, während er gleichzeitig der Tür zustrebte. Geralds Kugelschreiber verfehlte ihn um wenige Zentimeter.
Gerald nahm diesmal nicht die Straßenbahn. Das wunderbare Wetter machte Lust auf Bewegung. Er öffnete den obersten Knopf seines Hemdes. In einem Straßencafé in der Nähe des Präsidiums sah er mehrere Kollegen; sie hatten den Kopf in den Nacken fallen lassen und tankten Sonne.
Unterwegs fragte er sich, warum er überhaupt in der Gerichtsmedizin angerufen hatte. Sicher, er hatte sich über Batzko geärgert, über die gedankenlose Schnelligkeit, mit der er einen Schlussstrich unter die wenigen Indizien gezogen hatte. Der entscheidende Impuls aber lag in Gerald selbst. Die Erinnerungen an den vermeintlichen Selbstmord seines Kumpels hatten ihn auch an diesem Morgen beschäftigt. Er hatte damals dessen Familie nicht aufgesucht, obwohl er mehrfach dort zu Gast gewesen war. Er hatte auch mit niemandem über diesen Freund geredet. Bis heute litt er darunter. Und jetzt hatte er endlich das Gefühl, etwas wiedergutmachen zu können. Er konnte einfach nicht auf Batzkos Linie einschwenken. Er war am Vorabend am Tatort gewesen, er fühlte sich verpflichtet, die Akte nicht vorschnell zu schließen – ob er eine Beziehung zu diesem Fall wollte oder nicht.
Es dauerte eine knappe Minute, bis der Summer ertönte. Gerald trat in den Hausflur. Ein Mann um die fünfzig in einem ärmellosen Unterhemd und einer blauen, abgetragenen Baumwollhose stand im Türrahmen seiner Wohnung. Sein mächtiger Bauch wölbte sich über den Gürtel. Die massigen Oberarme hatten längst ihre Form verloren, ließen aber noch erkennen, dass der Mann in
Weitere Kostenlose Bücher