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Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schmitter
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oben tat. Die Balkonbrüstung war einfach zu hoch. Kurz darauf kamen zwei Polizisten aus dem Haus und sprachen mit ihrem Kollegen, der das Flatterband noch immer in den Händen hielt. Es war ein kurzes Gespräch. Einer der beiden zuckte mit den Achseln; sein desinteressierter Gesichtsausdruck verriet, dass sie nichts Aufregendes in Erfahrung gebracht hatten. Der Rest war Sache der Spurensicherung, die bald auftauchen würde.
    Gerald entfernte sich vom Ort des Geschehens. Die Lust, noch etwas zu trinken, war ihm vergangen. Er ging durch die Lindwurmstraße, und obwohl er nur wenige hundert Meter entfernt wohnte, war er im ersten Moment orientierungslos. Sein Verstand war wie blockiert, und allmählich wurde ihm bewusst, dass es nicht an seinem Schlafrückstand lag, sondern vielmehr an einer Erinnerung, die sich an die Oberfläche kämpfte: In seiner Schulzeit – er war fünfzehn oder sechzehn Jahre alt gewesen – hatte sich sein bester Freund vom Balkon der elterlichen Wohnung gestürzt. So hatte es zumindest damals geheißen, obwohl Gerald sich einen Selbstmord nicht hatte vorstellen können. Er hatte geglaubt, niemanden so gut zu kennen wie diesen Freund. Nächtelang hatten sie mit radikal entblößender Offenheit über den Sinn des Lebens, über Mädchen und die Techniken der Masturbation diskutiert. Und dabei zahllose Zigaretten gedreht und den Whiskey getrunken, den sein Freund nachmittags aus der väterlichen Spirituosensammlung abgezapft hatte. Nach dem tragischen Unglück hatte Gerald sich Monate lang schwerste Vorwürfe gemacht, die möglichen Vorboten des Selbstmords nicht erkannt zu haben. Dann hatten Gerüchte kursiert, dass der Sturz die Folge einer heftigen Auseinandersetzung mit dem älteren Bruder auf dem Balkon gewesen war. Das hatte Gerald allerdings nicht von seinen Schuldgefühlen befreien können, sondern sie nur in eine andere Bahn gelenkt. Denn stattdessen hatte er sich dann mit dem Vorwurf gequält, die These des vermeintlichen Suizids nicht hinterfragt zu haben. Hatte er dadurch nicht seinen Freund verraten, ihre Freundschaft behandelt wie einen Handschuh, den man irgendwo verloren hatte? Die Scham darüber hatte ihn für den Rest der Schulzeit in einen verstockten, abweisenden Einzelgänger verwandelt.
    Keine zwanzig Minuten später stand er vor seiner Wohnung im zweiten Stock eines gesichtslosen Hauses aus den siebziger Jahren. Er sah, dass in den beiden Zimmern, die zur Straße hinausgingen, und im Flur kein Licht brannte. Das las er als gutes Zeichen; in den vergangenen Nächten waren sie abwechselnd mit dem schreienden Baby auf dem Arm in der Wohnung auf und ab spaziert, in der Illusion, der andere könne im Schlafzimmer wenigstens für kurze Zeit die Augen schließen. Dass Nele den ganzen Abend allein mit dem Baby gewesen war, drang erst im Treppenhaus in sein Bewusstsein.
    Mit der größtmöglichen Vorsicht öffnete er die Wohnungstür. Stille. Nirgends brannte mehr Licht. Gerald hängte die Jacke an die Garderobe, zog die Schuhe aus und schlich ins Schlafzimmer. Er konnte die Umrisse der beiden Körper erkennen: Severin hatte eine Hand auf das schmerzende Ohr gepresst, die andere lag auf Neles Wange. Die Gesichter waren einander zugewandt im Abstand von nur wenigen Zentimetern. In dem Moment, als er ins Bett kriechen wollte, durchbrach ein kurzes, heftiges Schluchzen Severins Atmung. Gerald erschrak. Er fürchtete, ihn geweckt zu haben, doch Severin bewegte sich nicht, im Gegensatz zu Nele, die sich mit äußerster Vorsicht vom Baby wegdrehte. Ihre Augen blieben geschlossen, aber ihre Lippen zitterten, als betete sie darum, dass Severin weiterschlief. Gerald zog sich bis auf die Unterhose aus, hob vorsichtig die Bettdecke an und legte sich neben seine Frau. Er streichelte ihren Oberarm, den Rücken und küsste sie in den Nacken.
    »Wenn er diese Nacht nicht schläft, springe ich aus dem Fenster«, flüsterte sie.
    Er bemerkte eine seltsame Geruchsmischung aus Milch, Bett und Schweiß und bedauerte, nicht doch noch ein Bier im Café Blue getrunken zu haben.
    »Nach der dritten Nacht wird es besser. Das sagen alle: die Hebammen, die Ärzte, die Wunderheiler, die Schamanen, die Medizinmänner, sogar meine Mutter.«
    »Sagen sie auch, dass der Vater in der dritten Nacht abhaut?«
    Er legte seine Hand auf ihren Bauch, küsste erneut ihren Nacken und erwischte diesmal das dichte, kurzgeschnittene Haar.
    »Ich muss arbeiten, Liebes. Ich muss unser Heim, unser Kind und unsere Stadt

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