Die narzisstische Gesellschaft
Selbstabwertung «groß» ist – eine narzisstische Leistung der Selbstbeschädigung als Fortsetzung der frühen Erfahrungen. Ausgangspunkt ist die mangelnde primäre Bestätigung und Annahme, meistens gepaart mit Ablehnung und Abwertung: «Du bist nicht okay», «Das ist nicht in Ordnung», «Wie du bist, das macht mich ganz traurig, unglücklich, hilflos», «Du bist unmöglich, nicht zum Aushalten», «Du bringst mich noch ins Grab», «Das kannst du nicht», «Das schaffst du nie», «Du bist ja so ungeschickt», «Du enttäuscht mich», «Das hätte ich nicht gedacht», «Was soll bloß aus dir werden» usw. usf. Im Größenklein identifiziert sich das Kind allmählich mit allen negativen Zuschreibungen. Es muss glauben, was ihm gesagt wird, weil es noch kaum in der Lage ist, die Begrenztheit und Gestörtheit seiner Eltern zu erkennen und zu begreifen.
Das negative Selbstbild wird zur Schablone für alle Lebensäußerungen. In der masochistischen Selbstabwertung gibt man in der Tiefe den Eltern recht, nur um Ruhe und Frieden zu finden und nicht weiter herabgewürdigt zu werden. In der Annahme und Bestätigung der zugeschriebenen Schwächen und Fehler sollen die Aggressoren beruhigt oder es soll ihnen Gelegenheit gegeben werden, sich selbst überlegen zu fühlen, um dann vielleicht per Gnadenakt etwas Zuwendung zu gewähren: «Ich mache mich ganz klein, damit du dich groß fühlen kannst und dich etwas um mich kümmerst.» Man muss sich nur richtig hilflos und bedürftig zeigen, damit im Gegenüber Zuwendungsimpulse provoziert werden. Dadurch wird im Grunde das narzisstische Defizit bestätigt; die Fürsorge gerät in direkten Gegensatz zur eigentlich benötigten Liebe. So kann durch Helfen das Größenklein gezüchtet, bestätigt und chronifiziert werden.
Die Ausdrucksformen des Größenklein sind Betteln, Klagen, Jammern, Stöhnen: «Ich kann das nicht», «Ich brauche Hilfe», «Versteh mich doch», «Lass mich nicht allein», «Kümmere dich um mich», «Ich habe Angst», «Das ist mir zu viel», «Das schaffe ich nicht», «Ich weiß nicht weiter», «Das habe ich wirklich nicht verdient», «Das steht mir nicht zu», «Das wird sowieso nichts» sind typische Formeln der Selbstabwertung und der Provokation von Hilfe. Jeder unvermeidbare Erfolg, jede unerbetene Zuwendung und Bestätigung sind eine Gefahr für das Größenklein und müssen abgewertet und zurückgewiesen werden: «… war ja keine Kunst», «… ist ja nichts Besonderes», «Das ist doch selbstverständlich», «Das ist doch meine Pflicht», «Das war nur Glück oder Zufall», «Das ist nicht nötig», «Das will ich nicht», «Das ist nicht angemessen».
Ein Mensch im Größenklein kann sich nicht in den Mittelpunkt stellen, kann sich nicht darstellen, sich feiern und würdigen lassen. Er hält Beifall kaum aus, kann Komplimente und Glückwünsche schwer entgegennehmen; selbst der eigene Geburtstag wird verschwiegen oder nur ganz bescheiden begangen. Jede reale Würdigung bedroht die Größenklein-Abwehr des narzisstischen Defizits. Deshalb müssen Zuwendungen möglichst vermieden werden, und wenn das nicht gelingt, durch Beleidigungen, Hohn und provozierten Streit zunichtegemacht werden. Das Größenklein verträgt keine Anerkennung, so dass Zuspruch zur Qual werden kann – das sollten alle hilfsbereiten Gutmenschen wissen und beachten.
Man darf nicht übersehen, dass ein Mensch im Größenklein mit dem erlittenen Liebesdefizit identifiziert ist: Aus dem Glauben, er sei – aus den verschiedensten Gründen – nicht liebenswert, ist ein Weltbild des Überlebens gezimmert worden, weil die Erfahrung guten Lebens fehlt: «Die Eltern haben recht, ich widerspreche nicht (mehr), ich bin wirklich unmöglich.» Wird dieses Schutz- und Abwehrsystem mit wirklicher Anerkennung und Zuneigung konfrontiert, entsteht ein gravierender Konflikt: Entweder das bisherige Weltbild stimmt nicht mehr – dann war alles falsch, was bisher gedacht und getan worden ist –, oder die jetzt erfahrene Bestätigung und Zuneigung kann einfach nicht stimmen, ist also ein Irrtum. Lieber zweifelt der Größenklein-Narzisst an einer Zuwendung oder einem Erfolg, als das ganze bisherige Leben in Frage zu stellen.
In der Therapie kann es gelingen, dieses Ungleichgewicht der Erkenntnis zugunsten der Einsicht in das falsche Leben auszugleichen, wofür aber enorme Geduld, ehrliches Interesse und eine schmerzvolle Auseinandersetzung mit der erlebten Realität
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