Die narzisstische Gesellschaft
narzisstischen Problematik zwischen Realität und Anspruch. Die Gabe von Medikamenten ist höchstens eine hilfreiche Notlösung, aber im Prinzip völlig falsch, wenn es um das Verständnis der seelischen Situation eines Kindes in einer Umwelt mit pathogenen Anforderungen und defizitären Beziehungsstrukturen geht.
Das kindliche Größenklein nährt die Sehnsucht nach einem Größenselbst im Erwachsenenalter, um die Bitterkeit und Schmach der Kindheit vergessen zu machen. Und in der Tat wird dann im Größenselbst eine «schöne Kindheit» erinnert, jedenfalls solange die kompensatorische Abwehr anhält. Die illusionäre Phantasie wirkt wie ein innerseelischer Antreiber: Wenn ich «das» nur geschafft und erreicht haben werde, wenn ich mir «das» werde leisten können, dann wird alles gut sein, dann wird sich endlich das entbehrte Glück einstellen. Die Erfolge, die damit zu erreichen sind, sind tatsächlich real, stehen aber im Dienste der narzisstischen Regulation. Gut ist in diesem Fall nie gut genug, und statt einer entspannten Zufriedenheit und eines berechtigten Stolzes machen sich Zweifel und Befürchtungen geltend, ob man es nicht noch besser hätte machen können, ob das Erreichte zu halten sein wird und ob die erfahrene Anerkennung wirklich berechtigt ist. Die reale Kompetenz in der Rolle etwa als Rechtsanwalt, Arzt, Manager oder Politiker beruhigt zwar das Größenklein, aber immer nur für kurze Zeit, da der «Antreiber» nicht wirklich Ruhe gibt. So ist die erreichte Kompetenz bei aller nachweisbaren realen Leistungsfähigkeit häufig nur der Als-ob-Zustand eines falschen Lebens. Im Größenselbst dürfen das Bedürftige, das Schwache und das Begrenzte keine Rolle spielen. Im Größenklein dagegen lassen sich das Gute, die Ressourcen, die Fähigkeiten und Kompetenzen nicht geltend machen – oder man switcht hin und her und lebt beide Seiten kompensatorisch ein wenig aus, um auf diese Weise das Problempotential zu verteilen.
Fallbeispiel für das «Switchen» zwischen Größenklein und Größenselbst
Eine 42 -jährige Angestellte in der Abteilung eines Großbetriebs, in der die Werbung und der Vertrieb der Firmenprodukte gemanagt werden, bekommt den Auftrag, für wichtige Kunden eine Präsentation vorzubereiten und dann auch durchzuführen. Frau S. hatte als Kind wenig liebevolle Unterstützung von einer überforderten, berufstätigen Mutter, die ihre Tochter schon im ersten Lebensjahr in Krippenbetreuung gab. Der Vater war kaum an der Familie interessiert, viel beruflich unterwegs und vermittelte ein hohes Leistungsideal. Frau S. lernte den schmerzlichen Liebesmangel durch Leistungsbereitschaft zu kompensieren und war in Schule, Studium und schließlich auch als Angestellte erfolgreich. Als sie den Auftrag zur wichtigen Präsentation bekam und sich dadurch als hervorgehoben erlebte, «switchte» sie ins Größenselbst und fühlte sich als «Auserwählte» stolz und glücklich. Sie machte sich sofort – wie es ihre Art war – an die beauftragte Arbeit, fühlte sich aber überfordert, sobald sie den Umfang der Arbeit realisierte. Ihr Glücksgefühl brach mit der Befürchtung zusammen, das schaffe sie niemals, sie könne sich nur blamieren. In ihrer Verzweiflung (Größenklein) arbeitete sie «Tag und Nacht» und bat ihren Partner um Hilfe bei der Recherche und den technischen Details der Präsentation. Damit wuchs wieder ihr Selbstvertrauen, dass sie die an sie gerichteten Erwartungen wohl doch gut erfüllen könne (Größenselbst). Sie ging zuversichtlich, wenn auch mit «Lampenfieber» zum Präsentationstermin und rutschte augenblicklich wieder in die Selbstunsicherheit, als sie die große Zahl der anwesenden Gäste sah. Sie bekam Herzklopfen, fing an zu schwitzen und verhaspelte sich zu Beginn ihres Vortrages (Symptome des Größenklein). Sie fing sich aber nach kurzer Zeit, vor allem als sie das zustimmende Interesse der Gäste an ihren sehr gut gewählten Schaubildern erleben konnte. Jetzt ging für sie alles «wie am Schnürchen», sie wurde immer sicherer und selbstbewusster. Als dann Applaus kam, war sie sehr stolz. In der Nachbesprechung kollabierte ihr gutes Gefühl abermals, als sie das ernste Gesicht ihres Chefs sah, noch bevor dieser etwas gesagt hatte. Sie zweifelte plötzlich an ihrer Leistung und fürchtete abwertende Kritik. Ihr wurde schlecht und sie flüchtete sich in eine Ecke des Raumes. Aber der Chef lobte sie sehr; sein ernster Gesichtsausdruck hatte gar nichts mit ihr zu
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