Die narzisstische Gesellschaft
gegensätzliche Tendenzen zur Regulierung von Selbstwertstörungen beschrieben, die durch das Verhalten der Eltern in der frühen Entwicklung des Kindes erzeugt worden sind. Lieblosigkeit, mangelnde Zeit und fehlendes Verständnis der Eltern für das Kind, Kränkungen, Verletzungen, Demütigungen, Abwertungen, Alleinlassen und Gewalt sind die wesentlichen Ursachen, die die Entwicklung von Selbstwert, Identität und Vertrauen behindern. Mit den genannten Extremen, «Größenselbst» und «Größenklein», liegen eindeutig krankheitswerte Zustände vor, die im Fall des Größenselbst häufiger andere belasten und im Fall des Größenklein den Betroffenen das Leben schwer machen.
Bei vielen Menschen mit narzisstischen Regulationsstörungen ist deren Krankheitswert indes verschleiert, weil die Regulation zwischen den Polen hin- und herschwankt. Der frühe Liebes- und Bestätigungsmangel («Muttermangel») führt ja stets zu Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstunsicherheit. Im Grunde genommen ist also das «Größenklein» die Basis der Problematik, welche aber auch mit Größenselbst-Verhalten überkompensiert werden kann. Das «Switchen» zwischen den Befindlichkeiten hilft, das seelische Leid zu mildern. Im Größenselbst fühlt man sich zunächst wohl bis großartig, bis dies zu anstrengend, zerstörerisch und hinderlich wird, weil einem infolge der übernommenen Aufgaben oder der erreichten Geltung bzw. Macht zu viel Gegenwind ins Gesicht bläst und Kritik, Neid, Eifersucht und Ablehnung ausgehalten werden müssen.
Im Größenklein hingegen fühlt man sich belastet, angstvoll und schlecht, aber man darf auf Unterstützung und Hilfe hoffen, so dass es zu einem Leidensgewinn kommen kann. Im Hin und Her zwischen den Zuständen gibt es natürlich immer auch Phasen, in denen angemessen auf die realen Gegebenheiten reagiert wird, sofern die Selbstwertproblematik dadurch nicht berührt ist.
Das «Größenklein» ist bei Kindern noch häufiger als bei Erwachsenen anzutreffen: das einsame, traurige, verletzte, ängstliche, unsichere, das kranke Kind. In letzter Zeit werden mit der Bezeichnung ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitäts-Syndrom) Zustände motorischer Unruhe («Zappelphilipp»), verbunden mit Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, beschrieben. Sie bleiben seitens der Eltern, Lehrer und Mitschüler häufig unverstanden und werden durch Ermahnung, Bestrafung und Hänseln noch verschlimmert. Am Ende sollen dann Medikamente (Ritalin) das komplexe Problem beruhigen und damit auch verschleiern helfen.
Mediale Aufmerksamkeit und die Sorge von Eltern haben dazu geführt, dass diese Störungen und Entwicklungsprobleme bei Kindern vermehrt wahrgenommen werden. Strittig ist allerdings noch, ob es eine objektive Zunahme solcher Störungen gibt oder sich «nur» die Wahrnehmung verändert hat. Tatsache aber ist, dass offenbar die Wünsche vieler Eltern, mancher Ärzte und der Pharmaindustrie darin übereinstimmen, dass es «verhaltensauffällige» Kinder gibt, die an Unruhe, Zappeligkeit, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen leiden und deshalb am besten medikamentös beruhigt werden sollten. Nach dem Arzneiverordnungsreport sind die definierten Tagesdosen (
defined daily dose
, DDD ) an verordnetem Methylphenidat (Wirkstoff z.B. in Ritalin und Concerta) in der Zeit von 1999 bis 2009 von 8 auf 55 Millionen gestiegen. [5] Das wirklich Erschreckende daran ist, dass das Leid von Kindern bevorzugt «organisch» interpretiert und psychopharmakologisch gemildert werden soll, ohne entwicklungspsychologische und beziehungsdynamische Faktoren ernsthaft in Erwägung zu ziehen und die Lebensbedingungen der Kinder in den Familien, Schulen und der Gesellschaft kritisch in Frage zu stellen und entsprechend zu verbessern.
Bei genauerer Analyse liegen den Symptomen aber fast immer Selbstwertstörungen zugrunde. Auf den ersten Blick führen zu hohe Leistungsanforderungen, natürlicher, aber unterdrückter Bewegungsdrang sowie berechtigte affektive Spannungen zu Störungen der Aufmerksamkeit, der Konzentration und zu motorischer Unruhe. Das ist aber mehr eine Schutzreaktion bzw. die Entlastung von Überdruck angesichts bestehender Gefühlsunterdrückung, Reizüberflutung, haltloser Beziehungen und fehlender Werteorientierung. So gesehen ist ADHS keine Erkrankung, sondern der Ausdruck eines Konfliktes zwischen individuellen Möglichkeiten und den Anforderungen der sozialen Umwelt, mithin ein Syndrom der
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