Die narzisstische Gesellschaft
mit seinem Schatten bilanziert werden. Es gibt keinen Sieg ohne Niederlage, keinen Erfolg ohne Schaden, kein Glück ohne einen Preis. Es gibt keine Liebe für jemanden oder für etwas, ohne dabei Hass bei anderen zu schüren. Es gibt keinen Frieden, ohne Krieg zu provozieren. Linksradikale sind in ihrer Destruktivität nicht besser als Rechtsradikale, keine demokratische Partei hat ein wirklich besseres Programm als eine andere, jeder gefeierte Fortschritt erzeugt neue Verluste. Im Parallelogramm der Kräfte narzisstischer Regulation ist dies eine unabwendbare Gesetzmäßigkeit; man kann nur «Dampf» ablassen, bevor sich der Druck krisenhaft immer wieder erhöht. Dafür ist jede Kulturleistung geeignet, die die Energie narzisstischer Bedürftigkeit und Unzufriedenheit in einen Gefühlsausdruck verwandeln hilft – Filme, Theater, Musik, Literatur, mediale Informationen und Diskussionen, das Internet mit seinen Kommunikationsplattformen, Sport und Religionspraktiken. Sonst übernehmen dies Erkrankungen, soziale Konflikte, feindselige Kämpfe und Kriege.
Ein Leben außerhalb der narzisstischen Regulationssysteme sähe grundlegend anders aus: ohne Wachstumsdruck, ohne Konkurrenzkampf, ohne Leistungsstress, ohne übertriebene Selbstdarstellung – also auch ohne Werbung – und ohne appellatives Leiden durch Selbstentwertung und kultivierte Abhängigkeit. Wachstum würde dann natürlichen Prozessen folgen und Werden und Vergehen einschließen, Konkurrenz diente der optimalen Zusammenarbeit und nicht dem Beweis der eigenen Stärke, Leistung richtete sich nach notwendig zu erledigenden Aufgaben und nicht nach Profit. Selbstdarstellung und Selbstentwertung wären nicht mehr nötig, da man sich selbst genug ist. Partnerschaft wäre keine kollusive Verstrickung mehr, sondern gleichrangige Beziehung, die durch Verschiedenheit bereichert wird und im Verhandeln der Möglichkeiten lebendig bleibt. Sexualität wäre kein Machtmittel, sondern der natürlichste – machtfreie – Weg, sich selbst gemeinsam mit einem anderen Lust zu ermöglichen.
Narzisstische Störungen können nicht geheilt, aber sie müssen reguliert werden. Falsche Regulationen sind die Quelle von Selbst- bzw. Fremdbeschädigungen. Die wichtigste Aufgabe einer Gesellschaft besteht darin, die Gefahr narzisstischer Beschädigungen zu verringern und gute Möglichkeiten zur Regulation zu schaffen.
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11 Die Abwehr des narzisstischen Makels: Kompensation und Ablenkung
Die mangelhafte frühe Liebe wird in aller Regel als Makel, als Schmach, als selbstverschuldet erlebt. Man habe es eben nicht anders verdient, so die tiefe Überzeugung. Die Eltern bleiben dabei unangetastet und werden nicht kritisch hinterfragt. Dass man nicht so gut sei wie erwartet und erwünscht, verursacht frühe Scham, mit der man nicht gut leben kann. So beginnt ein lebenslanger Kampf, den vermeintlichen Makel und die peinliche Daseinsscham zu überwinden. Dafür bietet unsere Kultur zwei Wege mit vielfachen Möglichkeiten: die
Kompensation
, die häufig zur Überkompensation wird, weil wirkliche Zufriedenheit und Entspannung nicht mehr erreicht werden können. Es handelt sich dabei um alle Anstrengungen, zu zeigen und zu beweisen, dass man doch wer sei, etwas könne und Anerkennung verdiene. Doch im Laufe der Zeit kommt einem das Wissen davon abhanden, was man eigentlich sucht und erreichen will. Die benennbaren Ziele werden beliebig, folgen dem Zeitgeist und den Verheißungen der Werbung. Und hat man ein solches Ziel erreicht, verpuffen Erfolg und Gewinn im Nu und bringen keine gesättigte Ruhe oder narzisstische Gewissheit.
Die andere Möglichkeit neben der Kompensation ist die
Ablenkung
: Man wählt sich ein Hobby, das einen «ausfüllt», man macht sich Stress und schafft sich Probleme, wodurch man auf Trab gehalten wird, man vergnügt sich mit Erlebnissen, Aktionen, Events und Spielen, die Aufmerksamkeit fordern und Erregung sichern. Alles ist zur Ablenkung geeignet, was verhindert, dass man zur Ruhe kommt und Nachdenken und Besinnung zum Zuge kommen. In dieser Weise werden selbst Entspannungsmethoden und Meditation häufig missbraucht, indem man an der Technik feilt, um besondere Leistungen zu erbringen und ganz spezielle Erfahrungen zu gewinnen. Nicht immer ist das, was draufsteht oder was man vorgibt zu tun, auch wirklich der Inhalt des Tuns; es kommt auf den Sinn an, mit welchem eine Tätigkeit oder ein Vorhaben versehen wird, etwa Ablenkung und bloße Beschäftigung
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