Die narzisstische Gesellschaft
Verletzung fungieren. Je größer und bedrohlicher das reale Leid ist, desto wirksamer ist auch dessen Ablenkungspotential. Für mich ist das die einzige Erklärung, weshalb wir beispielsweise selbst ernsthafte ökologische Bedrohungen unseres Lebens hinnehmen – zwar klagen, schimpfen und uns sogar fürchten, aber nichts wirklich dagegen unternehmen: Wir brauchen das reale Leid zur Ablenkung.
Ich habe viele Menschen kennengelernt, die dadurch in erhebliche Schwierigkeiten geraten, dass sie – wie es ja therapeutisches Anliegen ist – Beschwerden und Krankheitszustände überwinden und eigenes Fehlverhalten erkennen und korrigieren. Auf einmal fehlt ihnen jener Leidensgrund, der bislang gleich einem Schwamm die schmerzvolle frühe Geschichte – die energetische Basis der aktuellen Probleme – aufgesogen hat und der nun die Leidensenergie wieder freigibt, als würde der Schwamm mit der Bewältigung des gegenwärtigen Leides ausgewrungen werden. Jetzt droht der frühe Schmerz ins Bewusstsein zu dringen, es sei denn, es gelingt, sehr rasch wieder neues Ersatzleid zu schaffen. Die Medizin kennt dieses Phänomen im Symptomwandel: Ein Symptom wird erfolgreich beseitigt und bald entsteht ein neues, so dass man denken könnte, jetzt habe man eine neue, eine andere Erkrankung. Die Psychotherapie kennt die Relativität erfolgreicher Veränderung und Entwicklung eines Menschen, wenn plötzlich ein Partner oder andere Familienmitglieder oder Arbeitskollegen in eine Krise geraten. Verändert sich eine Person, die in einem System der Kompensation frühen Leides gefangen ist, dann hat das Rückwirkungen auf das System, das jetzt einen anderen Symptomträger braucht oder aber ein neues Problem entwickeln bzw. einen gemeinsamen Außenfeind finden muss. Menschen, die endlich einmal glückliche Momente in ihrem Leben erfahren, müssen sehr bald mit dem «Schatten» kämpfen. Dabei kann es sich um akute Beschwerden, Erkrankungen, Verletzungen, Unfälle, kränkende Erlebnisse, ängstigende Vorfälle oder auch nur phantasierte Befürchtungen handeln. Irgendwie benötigt das widerfahrene, «illegitime» Glücksgefühl jedenfalls einen energetischen Ausgleich, damit das tief eingeprägte Selbstbild, nicht in Ordnung, nicht liebenswert oder nicht berechtigt zu sein, wiederhergestellt wird.
Wir benutzen in unserem Therapieverständnis dafür das Bild eines «Parallelogramms» der Kräfte. Wenn etwas in der narzisstischen Regulation verschoben wird, muss die darin enthaltene und frei werdende Energie in einer anderen Form wieder Gestalt annehmen, oder wenn zusätzliche Kompensationsenergie gebraucht wird, muss sie woanders verloren gehen. Die Summe der regulierenden Kräfte bleibt immer gleich.
Es gibt nur eine therapeutische Chance, in diesem Abwehr- und Kompensationssystem vorübergehend tatsächliche Linderung durch Energieverlust zu erfahren: Das ist der Gefühlsprozess. Die zugelassene narzisstische Wut infolge kränkender und verletzender Erfahrungen, der geweinte Schmerz über den Mangel an Liebe und die gefühlte Trauer über die verlorenen Lebenschancen verhalten sich dann wie ein Überdruckventil, das den Gefühlsstau ablässt und damit dem narzisstischen Regulationssystem Energie entzieht, was als deutliche Entlastung und Entspannung erlebt werden kann. Leider wirkt dies immer nur verhältnismäßig kurze Zeit – über Stunden, manchmal Tage –, bis äußere Ereignisse oder innere Verarbeitungen die alten narzisstischen Verletzungen wiederbeleben und der «Wundschmerz» neu reguliert werden muss.
Ich habe dafür das Bild von der «Matte im Rucksack» entworfen. Die «Matte» ist das Sinnbild dafür, dass man sich zur Gefühlsarbeit hinlegen und dabei über Bewegungsfreiheit verfügen sollte; denn im Zuge der Gefühlsentäußerung sollte man auch treten, schlagen und strampeln, sich winden und drehen, aufbäumen und einrollen können, je nach der Art des körperlichen Gefühlsausdrucks. Der «Rucksack» hingegen steht als Symbol dafür, dass die Gefühlsarbeit auf der Matte überall und jederzeit möglich sein sollte.
Der Schatten des Narzissmus ist wohl das größte und auch das am meisten verleugnete Problem wirklicher Selbsterkenntnis und Entwicklung. Die meisten Menschen streben unablässig nach etwas Glück und Zufriedenheit und müssen nahezu gesetzmäßig jeden Erfolg in dieser Richtung durch Negativerfahrungen wieder ausgleichen. So gesehen ist jeder Fortschritt anzuzweifeln; auf jeden Fall muss er zusammen
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