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Die narzisstische Gesellschaft

Die narzisstische Gesellschaft

Titel: Die narzisstische Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Maaz
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eines «Dunstes» und um eine dann betonte Ausatmung. Als wenn man sich der Lebendigkeit vergewissern möchte: sich das Leben – tief einatmend – nehmen. Die sprachliche Doppelbedeutung von «sich das Leben nehmen» – als das Recht auf Leben und als Ausdruck des Todeswunsches bei behinderter Lebendigkeit – wird im Rauchen besonders deutlich: als einatmende Lebensgier und inhalierte Lebensbedrohung.
    Wer mit dem Rauchen aufhören will, ist also gut beraten, sich eine andere orale Ablenkung zu organisieren. Man kann vieles tun, um von der Zigarette zu lassen und trotzdem auf das bedeutungsschwere (narzisstisch betonte) Ausatmen nicht verzichten zu müssen: intellektuelles Gerede, politische Phrasen, externales Geschwätz, aber auch Vorträge, Gesang, Musizieren, Geschichten erzählen, Witze reißen.
    Das Rentenalter bringt für viele nicht die ersehnte Entlastung, sondern führt zu einem wesentlichen Verlusterleben, das zuweilen Krankheiten auslöst oder sogar zu einem raschen Tod führt. Dass Politiker an der Macht «kleben», ist in aller Regel ebenfalls auf einen narzisstischen Regulationszwang zurückzuführen, damit das Erlebnis der eigentlichen inneren Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit nicht wiederkehrt. Der politische Gegner dient der Stabilisierung, indem man sich kämpferisch mit ihm auseinandersetzt, der Konkurrent vermittelt Halt, indem er einem Anstrengung und Erfolg abverlangt, der Termindruck löscht alle Gefährdungen aus, die durch Besinnung auf tief verborgene Ängste und Unsicherheiten entstehen könnten. Pflicht, Disziplin und Ordnung sind die Taktgeber einer Lebenslast, die die verhinderte und fehlende Lebenslust vergessen machen.
    Großartige Gelegenheiten, den tiefen Lebensfrust vermeintlich zu erklären, bietet ein «undankbarer», «dummer», «böser» Partner. Der Narzissmus erweist allen Zwängen, Schwierigkeiten, Ungerechtigkeiten, Bedrohungen und Feinden seine Reverenz. Sie geben ihm die Chance zu überleben. Gäbe es keine Probleme, der Narzisst müsste sie erfinden. Das ist für ihn selbst schon schlimm genug, aber wenn er darüber hinaus dazu beiträgt, Liebe in Konflikte zu verwandeln, Frieden zu verhindern und Versöhnung auszuschließen, wird das schmerzhafte narzisstische Defizit zur Quelle großer Schuld, mit der auch andere auf schwerwiegende Weise belastet werden.
    Der Narzisst braucht stets ein Feld, auf dem er sich beweisen und hervortun kann. Oder er muss Konflikte schüren, um der Ablenkung und des Ersatzleides willen. Der Narzisst im Größenselbst schafft sich Anstrengung und provoziert das Böse. Der Narzisst im Größenklein benötigt negative Erfahrungen, er fühlt sich auf tragische Weise nur im Leid «wohl» – darin kennt er sich aus, das bestätigt sein Weltbild –, und er wird deshalb stets für unglückliche Beziehungen, schlechte Arbeitsverhältnisse und ungerechte soziale Bedingungen sorgen. Menschen mit narzisstischen Störungen brauchen problematische und leidvolle gesellschaftliche und soziale Verhältnisse, die ihnen helfen, ihr wirkliches Leid zu vertuschen und zu vergessen.

Die Notwendigkeit des Ersatzleides
    Die Tragik der narzisstischen Störung liegt darin, dass man sie nicht mehr loswird, aber mit ihr auch nur schlecht leben kann. Die Erfahrung, nicht ausreichend geliebt zu sein, angeblich nicht gut genug zu sein, bleibt ein schmerzhafter Makel, der einem das Leben vergällen kann und eine positive Sinnerfahrung unmöglich macht. So werden die lebenslangen Bemühungen, das Gefühl der Minderwertigkeit zu überwinden, zur notwendigen Sinngebung. Es gibt dann nur noch ein Ziel: zu beweisen, dass man doch ein liebenswerter, ein wertvoller, ein guter Mensch ist, dass der Irrtum der Abwertung und der Mangel an liebevoller Bestätigung erkannt, bedauert und korrigiert werden muss. Da aber kein Erfolg, kein Sieg und keine Liebe nachträglich den früh geprägten Selbstwertzweifel korrigieren können, bleiben alle Anstrengungen im Grunde genommen hoffnungslos, auch wenn sie dem Leben eine hoffnungsvolle Orientierung zu geben scheinen.
    Da liegt der Weg in irgendeine Form von Süchtigkeit nahe, die regelmäßig zu leidvoller Abhängigkeit von krankheitswertem Verhalten und zu sozialen Konflikten führt. Aber die braucht der Narzisst womöglich auch. Hätte er keine Gründe, an seiner Lebensrealität zu leiden, würde der grundlegende Liebesmangel seine Existenz auf unerträgliche Weise in Frage stellen, was viel schlimmer ist als alle bestehenden

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