Die narzisstische Gesellschaft
Beschwerden und Konflikte. So ist jedes aktuelle Leid das kleinere Übel gegenüber der frühen Verletzung. Das hat wesentlich damit zu tun, dass man sich gegenüber aktuellen Schwierigkeiten als handlungsfähig erlebt, etwas dagegen tun oder aber fremde Hilfe in Anspruch nehmen kann. Als Kind aber blieb man ohnmächtig, letztlich auf Gedeih und Verderb dem Willen und den Möglichkeiten seiner Eltern bzw. der primären prägenden Bezugspersonen ausgeliefert. Es gab kein wirkliches Verhandeln, keine Kompromisse, keine Einsicht in das elterliche Fehlverhalten, in den entscheidenden Mangel an guter Mütterlichkeit, sondern nur die Chance herauszufinden, was den Eltern gefallen könnte und wodurch sie gnädig gestimmt werden könnten.
Die erreichbare Bestätigung der Eltern durch Anpassung ist niemals Liebe – denn hätten die Eltern diese zur Verfügung gehabt, gäbe es das narzisstische Defizit mit all den Anstrengungen, Liebe doch noch irgendwie zu ergattern, nicht in der Weise, wie es erfahren wurde. Andererseits gibt es keinerlei Garantie, die Annahme und Zuwendung der Eltern – und möge man sich noch so anstrengen – wirklich zu bekommen. Es liegt nicht in der Macht des Kindes, die elterlichen Defizite, ihre Behinderungen und Störungen zu heilen. Nur die Anpassung, die immer auch Selbstentfremdung ist, ermöglicht die Linderung der aktuellen Not, aber um einen hohen Preis.
Im Grunde wird ein falsches Leben erzwungen, und alle damit entstehenden Schwierigkeiten erfüllen eine Doppelfunktion: Sie ermöglichen die Ablenkung durch das Ersatzleid, das sie schaffen, und sie haben eine Signalfunktion, auf den falschen Weg, auf verfehltes Leben aufmerksam zu machen. Das Ersatzleid wird meistens kultiviert und chronifiziert, mit der Folge, dass die Signalfunktion – das Alarmsystem – nicht mehr verstanden wird. Politik, Kulturbetrieb, Finanzwirtschaft und ganz besonders die Medizin organisieren die Verleugnungs- und Abwehrfunktion und garantieren das Ersatzleid. Zum Stellvertreterleid kann alles werden, was geeignet ist, sich als Problem herauszustellen, mit dessen Lösung man dann nachhaltig beschäftigt ist. Entscheidend ist der Ablenkungswert: Das äußere konfliktäre Thema muss die innere Not übertönen, darf einem keine Zeit lassen, sich mit sich selbst zu beschäftigen, weil Konflikte entschärft, Feindseligkeiten abgewehrt, Gefahren vermindert, Verleugnungen gerächt, Gegner bekämpft, Genugtuung erreicht oder Ziele erstritten werden müssen.
Diese Abwehrfunktion erklärt auch, weshalb sich manche Menschen viel heftiger erregen, als es der Anlass eigentlich erklären kann; dass sie sich immer wieder in Konflikte verwickeln, Streit provozieren und sich ständig gegen jemanden oder etwas im Kampf befinden. Am besten, wenn sie sich dabei auch als Opfer erleben können, um so dem verborgenen Unrecht eine gegenwärtige Adresse zu geben. Selbst realen Opfern kann man häufig nur helfen und so weiteres Unrecht vermeiden, wenn ihr seelischer Anteil einer «Opferpersönlichkeit», die Ersatzleid braucht, erkannt und verstanden wird. Die Beziehung von Täter und Opfer ist fast immer mehr oder weniger ein dynamisches Verhältnis wechselseitiger, sich ergänzender unbewusster Motivation. Das exkulpiert den – selbst heftig provozierten – Täter freilich nicht von seiner Schuld, sobald er Gesetze bricht. Aber auch die potentielle Schuld des Opfers wird man berücksichtigen müssen. Sie wirkt häufig nach zwei Richtungen: gegen sich selbst, was nun einmal zur narzisstischen Selbstentwertung gehört, aber auch gegen den Täter, der als aktueller Täter entlarvt wird, was dem Opfer im Hinblick auf die Eltern, als den eigentlichen frühen Tätern, nicht gelungen ist. Aber jetzt kann das unfassbare frühe Leid auf real fassbares Unrecht verschoben werden. So bieten auch aktuelle Traumata immer eine Gelegenheit, hinter der gerade erfahrenen Verletzung die basale Verletzung zu verbergen und so eine Legende zu bilden, wonach das Trauma die Ursache allen Übels sei.
Dass wir an Beschwerden leiden, in unglücklichen Beziehungen stecken, ungerecht behandelt werden, mit unserem Verdienst nicht zufrieden sind und täglich tausend Gründe finden, etwas zu bemäkeln, dass wir schlechte Nachrichten aufsaugen, an der Politik leiden und Politiker verachten, über die Lebensverhältnisse klagen und Angst vor der Zukunft haben – das alles kann als Ersatzleid im Hinblick auf die narzisstisch begründete tiefe seelische
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