Die narzisstische Gesellschaft
oder aber Wahrnehmung mit gefühlter Erkenntnis.
Zur Kompensation eignen sich alle erfolgsorientierten Leistungen: Karrieredenken, das Anstreben von Machtpositionen, das angeberische Ansammeln von Reichtum und Besitz, das Streben nach hohem sozialem Status, der Ehrgeiz, sich hervorzutun, die ideologische Orientierung an Wachstum, der gnadenlose Kampf um Profit, alle Anstrengungen, unbedingt dazuzugehören, zwanghafte Bemühungen um den Erhalt von Jugendlichkeit, Schönheit und Gesundheit. Das Ergebnis sind Diätwahn, Fitnessqual, Markenfetischismus und künstliche «Schönheit». Sinn und Zweck des Lebens werden den äußeren Zielen gewidmet: Manch einer kann nicht mehr ungeschminkt auf die Straße gehen, sich nicht ohne Markenklamotten zeigen, er erlebt geringste Gewichtszunahme als existenzielle Bedrohung, glaubt, sich mit Botox oder Tattoos verschönern zu können etc.
Der Ablenkungszwang bedient sich heute vor allem des Fernsehens, des Internets und des Mobilfunks. Narzisstisch bedürftige Menschen machen sich zu Junkies der medialen Angebote, der Sintflut von sinnloser, überflüssiger und verwirrender Information aus dem Internet und der Erreichbarkeit über das Handy. Man beobachte nur einmal, mit welch nichtigen, überflüssigen Informationen ein unfreiwilliger Zuhörer auf Flughäfen, in Zügen oder Gaststätten durch den unablässigen Handygebrauch belästigt wird. Daran wird nicht nur die Kontaktnot der plappernden Menschen deutlich, sondern auch ihre versteckte Aggression, mit ihrer narzisstischen Bedürftigkeit andere zu stören und zu quälen. Über Sinn und Inhalt der meisten Fernsehproduktionen mag man sich schon nicht mehr wundern, weil sie eine Art Verblödung und aggressive Schadenfreude befördern, die offenbar vielen als Droge gegen ihre narzisstische Wunde dient. Wie groß muss die narzisstische Not einer Bevölkerung sein, dass sie sich solche Primitivität nicht nur gefallen lässt und sie konsumiert, sondern offenbar zur Ablenkung von eigenen Defiziten regelrecht braucht. Das Niveau der medialen Angebote ist ein Gradmesser und zugleich ein Spiegelbild der Verstörung eines großen Teils der Bevölkerung im Dienste narzisstischer Abwehr.
Wie in der Pharmakologie die Dosierung eines Mittels über Heilwirkung oder Schädigung und Vergiftung entscheidet, so bewegen sich alle Kompensations- und Ablenkungsmanöver narzisstischer Defizite zwischen notwendiger Hilfe und sinnvoller Tätigkeit auf der einen und süchtig-destruktivem Missbrauch auf der anderen Seite. Über Sinn oder Unsinn aller Bemühungen, über stabilisierende oder destruktiv-ausufernde Kompensation, über hilfreiche oder schädliche Nutzung der Abwehrmöglichkeiten entscheidet der einzelne Mensch, genauer: sein innerer Druck und seine seelische Not, die beruhigt werden müssen. Süchtig machen nicht die Angebote an sich, sondern die zugrunde liegenden Bedürftigkeiten.
Wie groß die pathogenen Wirkungen und die sozialen Folgen der narzisstischen Regulationsnotwendigkeit ausfallen, hängt von der Anzahl der Behelfsmöglichkeiten ab, über die der Einzelne verfügt, um den energetischen Anspruch der Abwehrbemühungen ausreichend verteilen zu können. Konzentriert man die Anstrengungen der Kompensation und Ablenkung energetisch auf nur eine oder wenige Möglichkeiten, lassen sich dadurch zwar besondere Erfolge und intensive Wirkungen erreichen, im gleichen Maß erhöht sich aber auch das Risiko schädlicher Folgen. So ist es für den Einzelnen und das soziale Zusammenleben in der Regel besser, wenn die zwangsläufig zur Süchtigkeit neigende Kompensation verteilt werden kann, beispielsweise etwas zu viel essen, etwas zu viel Alkohol trinken, etwas zu viel arbeiten, etwas zu viel fernsehen, etwas zu oft streiten und immer noch etwas mehr haben wollen – ohne wirklich schwerwiegend adipös, alkoholkrank, arbeitssüchtig, fernsehabhängig, streitwütig zu werden oder einem Wachstumswahn zu verfallen. Alle einseitige Orientierung und Konzentration der Abwehrbemühungen auf nur ein Ziel oder eine Ersatzbefriedigung vermehrt die Gefahr der Gesundheitsschädigung, der sozialen Belästigung und der Teilhabe an gesellschaftlicher Fehlentwicklung. Zudem macht sie recht bald eine Dosissteigerung des benutzten Mittels erforderlich, um noch die gleiche Schutzwirkung vor der narzisstischen Not zu erhalten; auf diese Weise werden körperliche, psychische und soziale Abhängigkeiten unvermeidlich. Dagegen garantiert die Verteilung der
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