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Die narzisstische Gesellschaft

Die narzisstische Gesellschaft

Titel: Die narzisstische Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Maaz
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also übertragungsfrei – es werden an den anderen keine Erwartungen gestellt und keine Enttäuschungen übermittelt.
    Natürlich weiß ich, dass alle Eltern Vorstellungen, Wünsche, Erwartungen und auch Ängste und Sorgen hinsichtlich der Entwicklung ihrer Kinder haben und dass diese auch aus Liebe zu ihnen resultieren können. Der entscheidende Unterschied liegt hier in der Motivation der emotionalen und auch fordernden Zuwendung an die Kinder: Brauchen die Eltern für ihre narzisstische Regulation, für das Gefühl, gute Eltern zu sein, oder für die Anerkennung «der Leute» («Was sollen die Leute sagen?») brave, fleißige, erfolgreiche, anständige, «wohlerzogene» Kinder, oder gilt das elterlich liebende Interesse dem Wohlergehen des Kindes, dem Entdecken und Fördern seiner Möglichkeiten und der Akzeptanz seiner Begrenzungen – auch wenn es nicht der familiären oder sozialen «Norm» entspricht. Der Grat zwischen den Motiven ist sicher schmal, aber er lässt sich immer wieder zugunsten freilassender Liebe begehen.
    Eltern werden natürlich nie ihren Ärger, ihre Enttäuschung, ihre Angst und ihren Stolz über die Entwicklung des Kindes verbergen können – und warum auch? Auf diese Weise entsteht immer ein manipulativ-suggestiver Einfluss, der gar nicht expressis verbis ausgedrückt werden muss, um Wirkung bei den Kindern zu erzielen. Hier ist es entscheidend, ob die Eltern in der Lage sind, ihre Gefühle und Reaktionen auf das Kind als
ihr
Erleben verständlich zu machen, gerade auch wenn es um elterliche narzisstische Bedürfnisse geht, etwa: «Ich ängstige mich um dich, weil ich es schwer aushalten könnte, wenn dir etwas zustoßen würde», «Ich bin stolz auf dich, weil ich mich dann als gute Mutter/guter Vater fühlen kann», «Ich ärgere mich über dich, weil ich mit deinem aggressiven Verhalten viel Arbeit und Stress habe», «Ich würde gern besser verstehen, warum du meine Bitten und Forderungen nicht mehr erfüllst». Ein solcher Kommunikationsstil («Ich-Botschaften») macht dem Kind deutlich, was die Eltern bewegt und wie sie fühlen. Das ist eine ganz andere Basis für die unvermeidbare Auseinandersetzung mit den elterlichen und den eigenen Bedürfnissen, als wenn das Kind zum Beispiel hören muss: «Ich ängstige mich um dich, weil du so unbeherrscht bist», «Ich bin stolz auf dich, weil du der Sieger bist», «Ich ärgere mich über dich, weil du so unordentlich und frech bist».
    Liebe ist das Bemühen um ein möglichst gutes Verstehen, wie der andere ist, wie er denkt und fühlt – eine derart gelingende Empathie ist die entscheidende Quelle für die narzisstische Sättigung. Aber Empathie lässt sich nicht machen, nicht erlernen, sondern nur freisetzen. Empathisch wird, wer sich selbst gut versteht und nichts mehr (vor sich selbst) verbergen, verleugnen, sich zurechtbiegen und beschönigen muss. Eine solche Selbsterfahrung wäre die wichtigste Aufgabe für «Elternschulen», um die narzisstische Schädigung von Kindern auf ein möglichst niedriges Niveau zu senken. Einfühlendes Verstehen ist das Gegenteil von Erziehung gemäß bestehenden Regeln, Normen und Empfehlungen. Empathie schließt per se alle natürlichen Regungen und die daraus folgenden notwendigen Reaktionen ein. So bedeutet Liebe Freilassen und Begrenzen, Bestätigen und Kritisieren – abhängig von der Situation, in der sich das Kind befindet, und davon, welche Antwort es für sein jeweiliges Problem braucht. Dies wird nie optimal gelingen, weil es schon schwierig ist, das eigene Empfinden wahrzunehmen und dessen Motive zu verstehen. Erst recht ist es schwierig, mitfühlend zu erkennen, was im Kind wirklich vorgeht – eigentlich eine unlösbare Aufgabe, aber umso mehr bedarf sie der kontinuierlichen Aufmerksamkeit und Anstrengung.
    Die Realität sieht leider häufig anders aus. Die Verleugnung, Verzerrung und Beschönigung innerseelischer Zustände ist soziale Gepflogenheit und bildet die übliche Erziehungsnorm. Wir wissen, dass die Lüge die Basis für sozialen Frieden ist, aber das ist und bleibt ein sehr labiler Frieden. Jedes Stück Wahrheit bedeutet Kränkung und Erschütterung der Beziehung, führt aber in aller Regel lediglich zu neuen Anstrengungen in Sachen Wahrheitskosmetik. Trotzdem: In der Kinderbetreuung bleiben Wahrheit und Ehrlichkeit entscheidend für die gute seelische Entwicklung, weil das Kind weniger auf die Worte als auf die Beziehung reagiert. Am Anfang des Lebens, wenn die

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