Die narzisstische Gesellschaft
Sätzen: Alle Eltern sind begrenzt und fehlerhaft. Kinder sind nicht verantwortlich und tragen keine Schuld an dem Befinden der Eltern.
Die sehr schwierige Differenzierung zwischen falscher, aus narzisstischer Bedürftigkeit begründeter «Liebe» und echter Liebe will ich an einem kleinen Beispiel illustrieren. Wir können immer wieder miterleben, wie kleine Kinder für etwas, das sie gerade gelernt haben oder ausprobieren, auffällig stark gelobt werden: «Ja, ganz toll – das hast du ganz fein gemacht!» Der Tonfall ist dabei meist etwas lauter, mitunter auch schrill – und das Kind freut sich. Aber eigentlich würden ein freundlicher Blick und eine bestätigende Geste genügen, ohne großes Getue. Wenn das Lob des Kindes vor allem der narzisstischen Bestätigung von Mutter und Vater dient, lernt das Kind ungewollt und unbewusst, seine Leistungen an die Bedürfnisse des Erwachsenen zu knüpfen, und wird so allmählich, aber sicher ins falsche Leben geführt; das heißt, am Ende ist es nicht für sich, sondern für andere erfolgreich. Ohne eine solche elterliche Bedürftigkeit bleibt das Kind im Mittelpunkt. Freude und Sorge der Eltern müssen dann nicht besonders herausgestellt werden: Sie übermitteln sich mit Blicken und Gesten und ruhigen, erklärenden, kommentierenden Worten, die sich auf die Realität des Geschehens beziehen und nicht auf die elterlichen Erwartungen.
Die Qualität der elterlichen Reaktionen auf das Kind ist sicher nicht einfach zu analysieren und lässt sich nur durch die genaue Erforschung der jeweiligen Motive erhellen. Der gesunde Erwachsene braucht nicht die Erfolge des Kindes, er kann sich über etwas bestätigend freuen oder auch etwas bedauern – und das ist etwas anderes, als wenn das eigene Wohlgefühl oder Unwohlsein vom Verhalten des Kindes abhängt. Der gesunde Erwachsene hat Kinder, für die er ganz selbstverständlich die elterliche Funktion und Verantwortung übernimmt, lebt sein eigenes Leben aber auch in relativer Unabhängigkeit vom Kind. Narzisstisch gestörte Eltern brauchen ihr Kind, um sich zu bestätigen; sie betonen in übertriebener Weise jeden Erfolg des Kindes und leiden übermäßig unter dessen Problemen, weil sie kein eigenes befriedigendes Leben führen können. Selbst das Leiden an ihren Kindern dient dann der Ablenkung von den eigenen narzisstischen Lebensschwierigkeiten.
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23 Politik ist narzissmuspflichtig
Ein narzisstisches Defizit ist im Grunde die beste Voraussetzung für das politische Geschäft. Mit einem gesunden, gesättigten Narzissmus würde man sich niemals auf eine «Spielwiese» begeben, auf der es um Machterhalt, um Sieg oder Niederlage, um ständige Kämpfe, um Intrigen und Korruption geht. Mit gesundem Narzissmus ist man sich selbst genug im Auf und Ab der Rhythmen und Zyklen der natürlichen Bedürfnisbefriedigung. Es geht dann um erreichbare Entspannung und nicht um immer mehr Macht um jeden Preis. Aber für das narzisstische Defizit bietet die real existierende Politik hervorragende Möglichkeiten zur Kompensation und Ablenkung. Politische Ämter und Funktionen bedienen vor allem das Größenselbst. Die Wähler befinden sich in Entsprechung dazu in der kollusiven Rolle des Größenklein: abhängig, führungsbedürftig, mit der Suggestion, wichtig zu sein, und der Illusion, per Stimmzettel etwas bewirken zu können.
Gemessen an der gesamtgesellschaftlichen Misere will es mir heutzutage nahezu gleichgültig erscheinen, welche Partei man wählt (außer einer rechtsradikalen) – es gibt nur noch graduelle Unterschiede in einem begrenzten Spektrum von Fehlentwicklung. Kommt eine oppositionelle Partei an die Macht, ändern sich höchstens auf der Symptomebene Kleinigkeiten; den narzisstischen Größenwahn hingegen kann keine Regierung stoppen. Das ist aber nicht nur eine Frage von «Sachzwängen», sondern vor allem der Kollusion der narzisstischen Kompensation: des Zusammenspiels von Hoffnung und Versprechen. Im Größenklein will man befriedigt, möglichst ohne besondere Anstrengungen ins Glück geführt werden. Im Größenselbst hingegen braucht man die Überzeugung von machbaren Erfolgen, die man zuerst sich selbst zur narzisstischen Regulation einredet und dann suggestiv-phrasenhaft «verkauft».
Zur Politik ist heute (und war vielleicht schon immer) nur derjenige geschaffen, der wegen des persönlichen narzisstischen Makels etwas Großes leisten und Bedeutendes darstellen muss. Das Wichtigste ist der augenblickliche,
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