Die narzisstische Gesellschaft
späteren Lebensphase zu entsprechend belastenden Lebensumständen kommt. Ohne zu wissen, warum, finden sich auf diese Weise viele Menschen immer aufs Neue in Konfliktsituationen, verbunden mit Enttäuschungen und Kränkungen, wieder, die das bestehende negative «Weltbild» bestätigen. Dieses Verhalten ist sehr schwer zu behandeln, weil bei der Fehleinschätzung und Verzerrung der Realität neben der beschämenden Einsicht sehr schmerzliche Erinnerungen an die frühe Verletzung und den Liebesmangel eine Rolle spielen.
Möchte man auf Grundlage dieser Erkenntnis Verhaltenskorrekturen vornehmen und die eigene Lebensform verändern, sind davon natürlich auch alle Beziehungspartner mitbetroffen. Oftmals geschieht es dann, dass der Partner, Familienangehörige, Freunde und Arbeitskollegen dies nicht verstehen und nur unwillig akzeptieren, wenn sie nicht sogar viel daransetzen, solche Veränderungen zu verhindern. Der Mensch lebt eben nicht für sich allein und ist immer nur ein Puzzleteil im sozialen Gefüge. Als Patient ist er der Symptomträger eines pathogenen Systems – so viel zur hoch geschätzten «individuellen Freiheit». Man kann nicht wirklich gesund werden in einer kranken oder krank machenden Umwelt. Gelingen individuelle Veränderungen trotz allem, wird sich die «pathogene Energie» an anderer Stelle symptomatisch wieder zeigen. So hat ein Mensch auf dem Weg aus seinen frühen Verletzungen heraus nicht nur mit sich selbst zu tun, sondern auch mit seiner sozialen Umwelt und letztlich mit einer gesellschaftlichen Lebensform, die zwar zu seiner Störung konform war, aber nicht zu seiner potentiellen Gesundung passt. Wie frühe Erfahrungen einer Mehrzahl von Menschen auch die gesellschaftliche Struktur ausformen, ist ein zentrales Thema dieses Buches.
Die prägende frühe Beziehungsqualität lässt sich am besten, getrennt nach der mütterlichen und väterlichen Einstellung zum Kind, mit folgenden Fragen aus der Sicht des Kindes erfassen:
Bin ich gewollt? (evtl. Mutterbedrohung)
Bin ich ausreichend geliebt? (evtl. Muttermangel)
Darf ich so werden und sein, wie ich wirklich bin? (evtl. Muttervergiftung)
Darf ich mich entwickeln und entfalten? (evtl. Vaterterror)
Werde ich ausreichend unterstützt und gefördert? (evtl. Vaterflucht)
Wird meine Begrenzung akzeptiert? (evtl. Vatermissbrauch)
Diese Themen sind in einer Therapie zu klären, zu verstehen und emotional zu verarbeiten. Dafür muss die Lebensgeschichte erinnert werden, es müssen die guten wie die schlechten Einflüsse auf die eigene Entwicklung identifiziert, die damit verbundenen Gefühle zum Ausdruck gebracht und schließlich neues Verhalten eingeübt und eine veränderte Lebensweise ins soziale Umfeld integriert werden – eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Wir wissen, dass die narzisstischen Störungen durch Kompensationen und Ablenkungen nachhaltig verleugnet und überdeckt werden. Ein Narzisst, der therapeutische Hilfe braucht, wird viel lieber medizinisch-symptomatische Behandlungen suchen, durch die seine Abwehr nicht in Frage gestellt wird. Solche Behandlungen nützen dem Medizinsystem und bringen der Pharmaindustrie und Medizintechnik riesige Profite. Dem Menschen mit narzisstischer Problematik helfen sie jedoch nur sehr oberflächlich; er neigt dann dazu, immer neue behandlungsbedürftige Symptome auszubilden und seine Erkrankungen zu organisieren und zu chronifizieren. Die narzisstische Problematik macht aber auch einen ehrlichen Zugang zum wirklichen Leiden sehr schwer, weil der Narzisst seine Abwehr – die Größe, den Glanz und die Bedeutung bzw. die Selbstabwertung und kultivierte Hilfsbedürftigkeit – braucht, um eine tiefe seelische Erschütterung zu verhindern.
Einen Menschen mit Größenselbst auf den Weg der Demut zu führen, mit dem Ziel, die eigentliche Minderwertigkeit zu akzeptieren, ist eine sehr anstrengende Arbeit. Der Größenselbst-Narzisst ist immer schon da (wie der Igel im Märchen «Der Hase und der Igel»), er weiß alles schon, meistens sogar besser, und ist in Sachen intellektueller und rationalisierender Abwehr nicht zu schlagen. Lässt man sich darauf ein, kann man als Therapeut nur verlieren. Die einzige Chance ist der langfristige, häufig mühselige Versuch, die Beziehung zu spiegeln und geduldig immer wieder die emotionale Wirkung des zwischenmenschlichen Kontaktes zu erfassen, zu besprechen und ganz allmählich auch sich weiter entfalten zu lassen. Es kommt darauf an, dass die unter dem
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