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Die narzisstische Gesellschaft

Die narzisstische Gesellschaft

Titel: Die narzisstische Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Maaz
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das heißt auch lediglich für Augenblicke erreichbare Erfolg. Spätfolgen von Entscheidungen und bedenkliche Zukunftsvisionen dürfen keine Rolle spielen. Einen entscheidenden Beitrag dazu leistet die gestörte, gering entwickelte Empathie bei narzisstischen Störungen. Wer das wirkliche Mitfühlen mit anderen und ein emotional getöntes Bild von der Zukunft nicht kennt, dem fällt es auch nicht schwer, irgendwelche Entscheidungen zu treffen, deren mögliche Folgen emotional distanziert bleiben.
    Was zählt, ist lediglich der augenblickliche Erfolg, die aktuelle Zustimmung, die für den Moment einige Befriedigung verschafft, aber keine nachhaltigen Auswirkungen hat. Die Zukunft interessiert im politischen Geschäft wenig, und auch die Sache, um die es vorgeblich geht, ist nur Vehikel für den süchtigen Machtkampf und die Selbstbehauptung gegenüber Konkurrenten und Kritikern. Der Konflikt um Ressourcen, der Rückgang der Artenvielfalt, die Vergiftung der Gewässer, der Böden und der Luft, die dramatischen Veränderungen des Klimas, wachsende soziale Ungerechtigkeit – das ist im Prinzip allen und natürlich auch unseren Politikern bekannt. Aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur sind sie jedoch nicht zu prospektiven, visionären und unbequemen Entscheidungen in der Lage – sie brauchen den kurzfristigen Erfolg, sie müssen sich beliebt machen, um im politischen Geschäft zu bestehen und es als Droge nutzen zu können.
    Das demokratische System der Mehrheitsmacht ist wenig geeignet, notwendige, aber unpopuläre Entscheidungen durchzusetzen. Die Mehrzahl der Wähler will und muss belogen werden; ihnen muss etwas vorgemacht und versprochen werden, um ihre narzisstische Bedürftigkeit zu «füttern». Ein verhängnisvolles Zusammenspiel. Die Gier ist der narzisstische Antreiber, entweder an die Macht zu kommen, um Vorteile, Privilegien und besondere materielle Boni zu ergattern, oder an den vordergründigen Erfolgen partizipieren zu können. Die Gier ist das narzisstische Symptom der Wachstumssucht, mit der Konsequenz, dass ein anderes Gesellschaftsmodell, das ohne materielles Wachstum auskäme, gar nicht für möglich gehalten wird – ähnlich wie bei Drogensüchtigen, die sich ein abstinentes Leben gar nicht mehr vorstellen und es nur in äußerster Not und dann von schwersten Entzugssymptomen begleitet erreichen können. Auch dem Durchschnittsbürger verleiht die Gier im ewigen Bemühen um kleine Profite und im ständigen Konsumstress eine permanente Ablenkung vom inneren Befinden. Die Lust an materiellem Zugewinn, an Konsum und dem individuellen kleinen Wohlstand kann zwar zur wesentlichen Lebensaufgabe werden, aber alle Erfolge, die sich damit verbunden einstellen, erlösen doch nicht vom narzisstischen Bedürfnisschmerz.
    In der Politik schneidert sich die narzisstische Kompensation ein Königskleid: große Worte, große Versprechungen, die aufgesetzte Souveränität, die vorgegaukelte Sicherheit, das wunderbar verpackte Nichtwissen, rhetorisch-eloquente Scheingefechte liefern das schillernde Als-ob-Kostüm, und keiner will erkennen, dass der Kaiser nackt ist. Minister schlüpfen von einem Kostüm ins andere, weil es schon längst nicht mehr um wirkliche Sachkompetenz geht, sondern vor allem darum, wie sich die narzisstische Abwehr der Bevölkerung zwischen Verheißungen und Erlösungshoffnungen am besten stabilisieren lässt. Da ist jede Suggestion oder sogar Lüge recht, um zu verhindern, dass früher Mangelschmerz wiederbelebt wird. Es geht nicht mehr um wirkliche politische Inhalte und Entwicklungen, sondern lediglich noch um den Modus, wie etwas vermittelt wird, um gewählt zu werden. Das Volk als «Souverän», die Wahlfreiheit und die psychische Reife des Wählers sind die größten Illusionen unseres demokratischen Systems.
    Man braucht nur die Statements führender Politiker an einem beliebigen Wahlabend zu verfolgen, um die Problematik narzisstischer Störung und Abwehr zu beobachten: Immer ist jeder irgendwie Sieger, ganz egal, wie das Wahlergebnis tatsächlich ausgefallen ist. Etwas wird immer zum Erfolg erklärt – das ist narzisstische Abwehrnotwendigkeit. Und wenn es kein blendender Erfolg ist, folgt sogleich die Abwertung der anderen Parteien, bei denen doch irgendein Makel, ein Fehler, eine Trickserei zu finden ist, um von den eigenen schlechten Werten abzulenken. Abwertung der anderen ist die zweite große Abwehrnotwendigkeit der narzisstischen Störung. Ist der Absturz in der

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