Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die narzisstische Gesellschaft

Die narzisstische Gesellschaft

Titel: Die narzisstische Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Maaz
Vom Netzwerk:
Wählergunst allzu groß, folgt nicht etwa das Eingeständnis falscher Politik oder fehlerhafter Entscheidungen, sondern das Problem wird bagatellisiert und verschoben: Man habe halt die eigene Position nicht ausreichend verständlich machen können, nicht gut genug «rübergebracht», oder weltpolitische Großereignisse hätten belastend zu Buche geschlagen – wie auch immer. Der Narzissmus verlangt Unfehlbarkeit oder zumindest größte und beste Anstrengungen (die natürlich geleistet, nur leider nicht angemessen erkannt und gewürdigt wurden). Die Gratulation eines Wahlverlierers an einen Wahlsieger hört sich in aller Regel so an: Ich tue so, als ob mir das alles nichts ausmacht, lasse nur keine Schwäche erkennen (keinen Ärger, keinen Groll, keinen Neid), von einer begründeten Überlegenheit des politischen Gegners bin ich sowieso nicht zu überzeugen, sonst müsste ich ja die eigene Position in Frage stellen. O-Ton von Lorenz Caffier, Spitzenkandidat der CDU bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern am 4 . September 2011 ( ZDF heute journal), nachdem seine Partei Verluste in Höhe von 5 , 6  Prozent hinnehmen musste: «Es lag weder an mir noch an unserer Partei, es lag einfach daran, dass wir die erfolgreiche Arbeit, die wir gemacht haben, nicht in den Vordergrund rücken konnten.» – Allein eine solche Aussage eines Spitzenpolitikers reicht meiner Meinung nach schon als Erklärung für die Tatsache aus, dass knapp 50  Prozent der Wahlberechtigten keinen Sinn mehr darin sehen, zur Wahl zu gehen.
    Ich bin davon überzeugt, dass die politische Karriere mit dem Ausmaß der narzisstischen Verletzung korreliert. Je größer die frühe narzisstische Verletzung, desto größer auch der Drang nach sekundärer Bedeutung und Macht. Der Blick auf die notwendige eigene Karriere verschafft die Antriebsenergie, die zur übermäßigen Arbeit befähigt, die Terminstress braucht und emotionslose Selbstbehauptung ermöglicht, wobei Skrupel und Zweifel auch sich selbst gegenüber gar nicht erst aufkommen. In politischen Führungsfunktionen verbleibt im Grunde kein Freiraum für privates Leben. Ein Tagesablauf von Termin zu Termin, bei denen es nur noch um Statements, diplomatische Floskeln und Machtkalkül geht, ist unmenschlich und absurd. Kein Mensch würde sich ein solches Leben auferlegen und einige Zeit durchhalten, es sei denn, er zieht daraus narzisstischen Gewinn an Kompensation und Ablenkung.
    Ich halte das nicht für bewundernswert, sondern für hochproblematisch, und zwar sowohl für den Mandatsträger als auch für die politische Kultur, in der mit der Kollusion von Größenselbst (Politiker) und Größenklein (Wähler) das narzisstische Problem kollektiv abgewehrt wird. Angesichts dessen führt nicht die wirkliche Sachlage zu den notwendigen Entscheidungen, sondern die narzisstischen Bedürfnisse sorgen für eine Darstellung der Sachlage, wie sie für die Erfolgsregulation gebraucht wird. Solange wir am bestehenden Politikmodell festhalten, bringt die narzisstische Persönlichkeit die besten Voraussetzungen mit, so zu entscheiden und so zu tun, als sei alles bestens geregelt. Zugleich scheint mir das der sicherste Weg, in eine schwere Gesellschaftskrise zu geraten, da es dazu führt, alles politische Tun in den Modus des Als-ob zu versetzen und die Realität nicht mehr abzubilden, sondern narzisstische Illusionen so lange zur Wahrheit zu erklären, bis das falsche Leben kollabiert.
    In diesem Sinne ist der «Fall» des Bundespräsidenten Christian Wulff prototypisch für die narzisstische Verfasstheit unserer Gesellschaft. Bereits bei seiner Wahl musste er «emporgehoben» werden in ein Amt, dem er nicht wirklich gewachsen war. Das kann man als kollusives Zusammenspiel des Kandidaten im Größenselbst mit der Idealisierung einer Persönlichkeit durch die narzisstische Bedürftigkeit einer Bevölkerungsmehrheit verstehen. Die Idealisierung ist immer die Projektion unerfüllter Bestätigung und der Sehnsucht nach Erfolg. Bei einer narzisstischen Kollusion wird auf beiden Seiten die Realität nicht mehr ausreichend wahrgenommen: Man sieht sich den Kandidaten «schön», und dieser glaubt nur allzu gern daran, um tiefere Selbstwertzweifel zu betäuben, während die Zujubler ihren Wünschen und Hoffnungen Ausdruck verleihen, indem sie vor der eigenen bescheidenen oder gar bitteren Realität flüchten.
    Die Vorteilnahmen des Exbundespräsidenten waren im Grunde klassische Beispiele narzisstischer

Weitere Kostenlose Bücher