Die narzisstische Gesellschaft
Bedürftigkeit, nur dass sie eben nicht mehr mit der Würde des Amtes vereinbar sind. Das Präsidentenamt erfordert wirkliche Größe, das heißt primär-narzisstische Sättigung, sonst ist man mit der notwendigen Distanz und Einsamkeit, die mit der Rolle als «Erster Mann im Staat» einhergeht, heillos überfordert. Dass genau das bei ihm der Fall war, hat Wulff auch mit seinem Krisenmanagement, der fehlenden Einsicht in sein Fehlverhalten und der Unmöglichkeit der Schulderkenntnis deutlich werden lassen.
Der Narzisst im Größenselbst darf keine Fehler und Schwächen erkennen lassen und zugeben, weil sonst das gesamte Abwehrgebäude zusammenzubrechen droht und die unerfüllte Bedürftigkeit gleichsam nackt dastehen würde. Deshalb müssen es auch der große Zapfenstreich und der Ehrensold mit allen Privilegien sein; sie geben dem in die Krise geratenen Selbstbild letzten Halt. Ohne narzisstische Not, ohne den unbedingten Willen, an den kompensatorischen Strukturen festzuhalten, würde keiner die wochenlange Häme, die Medienschelte, die Verfolgung im «Kasperle-Theater» der Talkshows und als kabarettistisches Schlachtopfer durchhalten. Ein derart «dickes Fell» ist der nahezu notwendige Panzer des Narzissmus, der sich von außen falsche Ehre anheften lässt und nach innen den Schein der Größe unbedingt verteidigen muss.
Wulff ist an seinem Narzissmus gescheitert, aber er ist auch das Opfer der narzisstischen Projektionen von erhoffter Größe und ihrer gnadenlosen Denunziation, wenn sie schwächelt. Die Macht des Wortes, die dem Bundespräsidenten gewährt wird, muss die unterschiedlichsten Interessen berücksichtigen und zu versöhnen bemüht sein – es ist verbale Taktik und nicht mehr die Freiheit der Rede aus innerseelischer Befindlichkeit. Wenn dann das Größenselbst schwächelt und für die Projektionen unbrauchbar wird, bekommt das Größenklein Futter für seine Rache. So folgt der falschen Verehrung die gnadenlose Abwertung.
Unsere narzisstisch begründete Demokratie ist nicht mehr das «beste aller Systeme», weil die notwendigen Mehrheiten nicht auf dem Weg emotional getragener, rationaler Entscheidungen zustande kommen, sondern die narzisstische Abwehr im Größenselbst wie im Größenklein in der politischen Arena das Sagen hat.
Wird in den Nachrichten etwa gemeldet, dass Präsident Sarkozy und Kanzlerin Merkel sich treffen, um über die Euro-Krise zu beraten, dann klingt das so, als seien diese beiden Menschen in der Lage, wirklich zu verstehen, was zu tun ist: Alle warten gespannt auf die Statements in der Pressekonferenz. Man darf ganz sicher sein, dass es in derlei Gesprächen letztlich nur darum geht, wie man das Sachproblem gestaltet und vor allem vermittelt, um an der Macht zu bleiben und die nächsten Wahlen zu gewinnen. Wir haben es weder mit Übermenschen noch mit so großartigem Sachverstand zu tun, wie wir es zu unserer narzisstischen Beruhigung gerne glauben möchten. Ein ehrliches Statement könnte lauten: Wir wissen nicht weiter, wir brauchen Rat, wie die Fehlentwicklung zu beenden wäre. Dazu müssten Sachkompetenzen versammelt und Konsenslösungen für die notwendigen Entscheidungen gefunden werden; es müssten deren Folgen, die mit Belastungen für den Einzelnen verbunden sind, und die daraus resultierenden Lebensveränderungen erklärt und breit diskutiert werden, so dass sie allen verständlich und von den meisten mitgetragen werden. Es ginge also nicht mehr um einen Kampf um Mehrheiten, sondern um einen gerechten Konsens samt der damit verbundenen Mühen. Das wäre in der Tat eine andere Gesellschaft, deren Politik nicht mehr narzissmuspflichtig wäre.
Nur die Überwindung der Motive, aus denen heraus wir der narzisstischen Regulation bedürfen, vermag eine menschliche und gerechte Zukunft zu sichern. Im Moment jedoch liegt die Zukunft der Welt in den Händen von Spielern und Zockern, die profitgierig und völlig unempathisch darum bemüht sind, ihre erhebliche Störung im Glücksspiel und durch Wetten zu regulieren. Die narzisstische Not hat ein Ausmaß des Ausagierens angenommen, das die Welt ins Chaos stürzen kann. Um dieser gefährlichen und unkontrollierbaren Entwicklung Einhalt zu gebieten, wäre insbesondere seitens der zuständigen Amtsträger statt narzisstischer Abwehr die Erkenntnis prinzipieller Fehlentwicklungen notwendig, verbunden mit der Übernahme von Verantwortung für diese Fehlentwicklungen. Erforderlich wären die Einsicht in die begrenzte eigene
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