Die Nebelkinder
dessen Gabel er sich gut stützen konnte, nachdem er das Holz auf die richtige Länge gebracht hatte. So humpelte er zur Abtei, wo er sich über die Soldaten wunderte, die im Schatten der Stallungen saßen und einen Weinschlauch kreisen ließen. Er entdeckte Grimald in ihrer Mitte und trat auf ihn zu.
»Was tut ihr hier?«, fragte Albin.
»Wein trinken, das siehst du doch«, erwiderte der ostfränkische Hauptmann mit weinschwerem Zungenschlag. »Graf Guntram hat ein paar Schläuche spendiert als Belohnung dafür, dass wir die letzten Tage bis zum Umfallen im Sattel gesessen und nach seiner Tochter gesucht haben.«
»Und heute? Geht ihr heute nicht auf die Suche?«
Grimald grinste breit. »Wie denn, wenn wir hier sitzen?«
Neue Hoffnung stieg in Albin auf und er rief: »Ihr habt sie gefunden! Gerswind ist wieder da!«
Der Hauptmann trank einen Schluck, wischte mit dem Handrücken über seine feuchten Lippen und rülpste: »Ist das Erste, was ich höre.«
»Ihr... ihr habt sie nicht gefunden?«
»Nein«, beschied Grimald, des Gesprächs allmählich überdrüssig, knapp.
»Gerswind ist nicht zur Abtei zurückgekehrt?«
»Die Sonne hat Gerswind nicht über die Gipfel getragen, und der Wind hat sie nicht aus dem See gefischt.« Grimalds Bemerkung entlockte den angeheiterten Soldaten ein meckerndes Gelächter.
»Ich versteh das alles nicht«, murmelte Albin. »Warum sucht ihr Gerswind nicht weiter, wenn sie noch verschwunden ist?« Die eben aufgekeimte Hoffnungwich einer eiskalten Hand, die nach seinem Herzen griff. Gleichzeitig wurde sein Kehle trocken wie ein Weinkrug zur Fastenzeit. »Ist... ist sie etwa...«
»Tot?« Grimald zuckte mit den Schultern. »Da niemand weiß, wo Gerswind steckt, weiß auch niemand, ob sie noch am Leben ist.«
»Aber weshalb sucht ihr dann nicht weiter?«
»Weil der Graf heute Morgen, als wir gerade die Pferde sattelten, die Suche für beendet erklärt hat.«
»Der Graf?«, staunte Albin. »Warum?«
»Frag doch ihn, vielleicht sagt er's dir.«
Grimald hob erneut den Weinschlauch an die Lippen und trank in tiefen Zügen. Als Albin sich nach Guntram erkundigte, zeigte der Hauptmann mit dem Daumen der linken Hand über die Schulter zum Gästehaus. Dort kreuzten zwei Wachen vor dem Eingang ihre Speere und verstellten Albin den Weg.
»Lasst mich durch!«, verlangte er. »Ich muss mit Graf Guntram sprechen.«
»Du?« Die Wachen musterten ihn wie einen Betder, der verlangt hatte, zu einem König vorgelassen zu werden. »Was kannst du schon von ihm wollen?«
»Ich muss mit ihm über Gerswind sprechen.«
»Wer bist du denn überhaupt?«
Albin nannte seinen Namen. »Ich war auf der Fischerinsel, als Gerswind geraubt wurde.«
Endlich ging einer der Soldaten ins Haus und kehrte kurz darauf mit der Mitteilung zurück: »Der Graf will dich sehen. Folge mir!«
Guntram erwartete ihn in einem der Zimmer, die hochrangigen Besuchern der Abtei vorbehalten blieben. Brokatbesetzte Wandteppiche sowie Gold- und Silberbeschläge schmückten den Raum. Der Graf saß mit weit von sich gestreckten Beinen in einem niedrigen Stuhl und hielt einen rubinverzierten Weinpokal aus glänzendem Silber in der Hand. Er dankte der Wache und wies sie an, auf dem Gang zu warten. Als Guntram den Pokal zum Mund führte, dachte Albin, dass er und seine Männer wohl etwas zu feiern hätten.
Nur sah der Gesandte ganz und gar nicht so aus wie jemand, dem nach Feiern zumute war. Sein Gesicht war eingefallen, dunkle Ringe saßen unter den Augen. Die nach unten gekrümmten Mundwinkel drückten Kummer aus. Nein, Graf Guntram feierte nicht, er ertränkte seine Sorgen.
»Was willst du?«, fragte er. »Du glotzt mich an wie den Leibhaftigen.«
»Herr, warum hast du die Suche nach Gerswind eingestellt?«
Die müden Augen des Grafen weiteten sich. »Glaubst du, wir finden sie noch? Wenn die Nebelkinder sie verschleppt haben, sind sie längst über alle Berge, und das kann man wörtlich nehmen. Oder aber Gerswind hat das Ufer niemals erreicht. Der See ist tief, hat man mir gesagt, sehr tief an manchen Stellen. Wäre sie noch irgendwo im Bereich der Abtei, hätten wir sie bereits entdeckt.«
»Auch wenn die Hoffnung gering ist, musst du sie weiter suchen lassen, Herr. Das ist unsere einzige Aussicht, sie zu finden.«
Unwillig runzelte der Graf die Stirn. »Bursche, willst du mich belehren?«
»Aber... sie ist doch deine Tochter, Herr!«
»Meine Tochter, ja...« Guntram sprach leise und schloss die Augen, als müsse er
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