Die Nebelkinder
nachdachte, desto mehr verstand er Guntrams Beweggründe.
Der Graf hatte Recht, Albin war wirklich ein Narr gewesen. Wenn Albins Vermutung stimmte und Guntram von den Rotelben mit dem Leben seiner Tochter erpresst wurde, durfte der Graf das nicht an die große Glocke hängen. Nicht weil er Albin für einen Mörder hielt, hatte Guntram ihn einsperren lassen. Er wollte den Findling mundtot machen und verhindern, dass er Gerswinds Rettung gefährdete. Hatte Guntram es nicht selbst gesagt, als er meinte, Albins Rede sei gefährlicher als ein Elbenstrahl?
Gerade als Albin zu dieser Erkenntnis gelangt war, schreckte ihn das rostige Schaben des Riegels auf, der seinen Kerker verschloss. Mit einem lang gezogenen Quietschen sprang die Tür ein Stück auf und Tageslicht vertrieb die Dunkelheit aus dem Verschlag. »Ich lasse die Tür einen Spalt aufstehen, damit du Licht hast«, sagte der Wachtposten. »Und damit ich schneller reinkommen kann, falls der Gefangene Arger macht.«
»Danke, mein Sohn. Aber es wird keinen Arger geben.« Der das sagte, war Graman. Mir sorgenvoller Miene trat er ein und stellte einen Korb vor Albin ab. »Essen, Milch und Medizin«, verkündete er laut und fügte leiser hinzu: »Du hättest erst zu mir kommen sollen, bevor du dich mit dem Grafen anlegst!«
»Du hast Recht, Nonus«, gab Albin kleinlaut zu.
Hungrig biss er in ein Stück Ziegenkäse, aber selbst die Kaubewegungen reizten seinen Kopfschmerz. Graman verabreichte ihm einen bitter schmeckenden Kräutertrunk, der seine Schmerzen betäuben sollte. Der Trunk wirkte schnell, führte aber auch dazu, dass Albin sich träge und schläfrig fühlte. Mit einer Salbe stillte Graman das Nasenbluten, dann nahm er sich den verstauchten Fuß vor.
Vorsichtig zog der Infirmarius Albins Schuh und
Strumpf aus. Trotz seiner Müdigkeit bemerkte Albin, wie der Mönch beim Anblick seines nackten Fußes kurz erstarrte. Schon lange hatte Graman das nicht mehr gesehen. Rasch bekam er sich wieder in die Gewalt, ertastete die Stellen am Fußgelenk, die den Schmerz verursachten, und rieb sie dick mit einer gelben Paste ein. Die Berührungen schmerzten so stark, dass Albin mehrmals aufstöhnte.
Vielleicht war es dieses Stöhnen, das die Schrittgeräusche überlagerte. Albin und Graman wurden von dem plötzlichen Eintreten Wenrichs vollkommen überrascht. Zugleich zog die Wache die Tür weit auf, sodass der Verschlag im hellen Licht lag.
Angewidert starrte der Vogt auf Albins entblößten Fuß und sagte: »So sieht kein Mensch aus. Was bist du, ein Dämon? Ah, ich ahne es, du gehörst zu den Nebelkindern! Nicht von ungefähr sagt man, sie hätten die Leiber von Knaben und die Füße von Raben. Ich kam sofort, als ich von deiner Festnahme hörte. Guntram hat richtig gehandelt. Er hätte schon viel eher auf mich hören sollen. Ich hatte dich gleich im Verdacht, schuld an Gerswinds Verschleppung und an Graf Chlodomers Ermordung zu sein, du Missgeburt!
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6.
Wenige Stunden später führten zwei von Wenrichs Bewaffneten Albin, dem sie die Hände auf den Rücken gebunden hatten, zum Refektorium. Da er sich nirgends stützen konnte, brachte sein verstauchter Fuß ihn mehrfach zu Fall. Die Soldaten lachten höhnisch und schlugen mit den stumpfen Enden ihrer Speere auf ihn ein. »Auf die Füße, Mördergezücht! Sonst machen wir dir Beine, indem wir deine Sohlen mit heißem Eisen brennen!«
Im Refektorium saßen auf einer Bank hinter einem langen Tisch Wenrich, Manegold, Ursinus und Guntram. Sie blickten ihm mit ernsten Mienen entgegen. Albin war augenblicklich klar, dass sie über ihn Gericht halten wollten. Rechts und links von ihm saßen weitere Männer mit dem Gesicht zu ihm: viele Mönche, auch Graman, die Hauptleute Grimald und Volko sowie einige Barschalke, darunter der stets rotwangige Barthel.
»Dieses Gericht wird über dein Schicksal entscheiden, Knecht Albin«, verkündete Wenrich mit feierlichem Tonfall. »Als von König Arnulf berufener Vogt von Mondsee stehe ich dem Gericht vor und ich leite die Untersuchung. Die Anklage lautet auf Mord und Verschleppung. Opfer der Verschleppung ist Gerswind, die Tochter des Grafen Guntram. Opfer des Mordes ist Graf Chlodomer, der Gesandte des westfränkischen Königs Odo, wodurch die Anklage auf einen Fall von Hochverrat ausgedehnt wird. Zudem wirst du verbotenen heidnischen Zaubers bezichtigt, weil du durch deine verruchten Elbenkünste den Grafen ermordet und meine Hunde getötet hast. Wie äußerst du
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