Die Nebelkinder
etwas anderes: auf die lautlosen Stimmen, die er vor dem Überfall gehört hatte. Sie hatten ihn, wenn auch zu spät, gewarnt. Vielleicht konnten sie ihm jetzt helfen, Gerswind aufzuspüren. Doch diesmal, als er es so sehr ersehnte, vernahm er nichts. Vielleicht waren die Nebelkinder schon zu weit entfernt. Oder raubte ihm der Schmerz, der in seinem Kopf hämmerte und bohrte, die ungewöhnliche Fähigkeit, die er erst vor kurzem entdeckt hatte?
Als er die Augen enttäuscht wieder öffnete, sah er etwas auf dem Wasser treiben. Ein heller runder Fleck, der auf den Wellen tanzte. Es war Gerswinds Sonnenhut, der in Richtung Steg gespült wurde. Albin beugte sich weit vor und fischte ihn aus dem Wasser. Mehr war ihm von dem Mädchen, für das sein Herz so heftig schlug, nicht geblieben.
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5.
»Das also ist alles, was ihr mir von meiner Tochter zurückbringt ...«
Graf Guntram sprach leise, mit brüchiger Stimme. Der im Krieg gegen die Nordmänner gestählte und das Befehlen gewohnte Edelmann wirkte zutiefst erschüttert. Jedem, der ihn in diesem Augenblick sah, war klar, wie viel ihm die Tochter bedeutete. Er drehte den vom Wasser verformten Strohhut in seinen knochigen Händen, immer und immer wieder, als sei der Hut ein Rad, mit dem er die Zeit zurückdrehen und das Schreckliche, das sich auf der alten Fischerinsel ereignet hatte, ungeschehen machen konnte.
Der Sonnenball war hinter den Bergen versunken und die langen Schatten der Abtei standen im Begriff, sich zum Abenddunkel zu vereinen. Nach und nach kehrten die berittenen Trupps zurück, die das Seeufer nach den Entführern und ihrem Opfer abgesucht hatten. Bis jetzt hatte niemand eine Spur entdeckt, noch nicht einmal die Einbäume hatte man gefunden. Eben war Guntram an der Spitze einer zehnköpfigen Schar durchs Haupttor der Abtei geritten. Kaum war er aus dem Sattel gerutscht, da stand auch schon der zutiefst zerknirschte Grimald vor ihm, um über die Ereignisse auf der Fischerinsel zu berichten. Der Graf, zu dem sich der Abt und der Dekan gesellt hatten, hatte nach Albin schicken lassen, der im Gegensatz zu Grimald alles mit angesehen hatte. Albin hatte erzählt, was er erlebt hatte, doch die Stimmen in seinem
Kopf verschwiegen. Er wusste, dass dies etwas war, das die anderen ihm nicht abnehmen würden. Zum Schluss hatte er Guntram den Hut überreicht.
Um Guntram, Manegold, Ursinus, Grimald und Albin scharten sich die Soldaten des Grafen, einige noch zu Pferd, die anderen abgesessen. Ihre von Schweiß und Staub verklebten, von der langen Suche müden Gesichter waren abwartend auf ihren Herrn gerichtet. Hinter den Pferden, die erschöpft ihre Köpfe hängen ließen, waren Mönche, Knechte und Mägde zusammengeströmt. Die Nachricht von Gerswinds Verschleppung hatte sich wie ein Lauffeuer in der Abtei verbreitet und die Menschen zerredeten sich die Köpfe über den unerhörten Vorfall. Jetzt aber sprach niemand. Man hörte nur das gelegentliche Wiehern eines Pferdes, unruhiges Hufgeklapper und das leise Klirren eines Panzerhemdes, wenn sich einer der Soldaten bewegte.
Plötzlich ertönten laute Rufe am Haupttor, vermischt mit dem schnellen Hufschlag mehrerer Pferde. Vogt Wenrich auf seinem Rappen führte den heimkehrenden Trupp an. Wären ein paar der gaffenden Knechte nicht beiseite gesprungen, wären sie unter die Hufe der Pferde gekommen. Der Vogt zügelte sein Tier dicht vor Guntram, stieg aber nicht ab.
»Nichts, Graf«, meldete er düster. »Wir sind das Ufer der ganzen Drachenwand entlang abgeritten, bis hin zum Pass. Aber wir haben weder deine Tochter noch ihre Entführer gefunden. Bestimmt hätten wir mehr Erfolg gehabt, hätten Bardo und Egolf uns bei der Suche helfen können.«
Guntram, der bislang auf den Hut in seinen Händen gestarrt hatte, sah auf den Rappen des Vogts und sagte mit leiser, doch bedrohlich klingender Stimme: »Wer spricht mit mir? Ein Pferd?-
Der Vogt errötete. Mit vor Ärger mahlenden Kiefern stieg er aus dem Sattel, begleitet vom Kichern einiger Soldaten.
Erst als Wenrich vor ihm stand, richtete der Graf das Wort an ihn: »Ich weiß deine Mühen und die deiner Männer zu schätzen, Vogt. Leider war bislang jede Suche vergeblich. Du warst meine letzte Hoffnung. Deine tollwütigen Hunde aber hätten womöglich meine Tochter zerfleischt.«
Wenrich verbiss sich eine Erwiderung und fragte nur: »Was genau ist am See vorgefallen?«
Guntram wies auf Albin. »Der Knecht hier, Albin, war dabei. Er wird es dir
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