Die Nebelkinder
begann. Viele Bäume waren krumm und schief gewachsen. Sie neigten ihre Kronen zur Seite. Die Äste waren stark wie junge Baumstämme, und aus ihnen sprossen, sah man näher hin, wahrhaftig weitere Äste und Verästelungen. Das Ganze war eine Festung, eine Burg aus Holz, aus Bäumen, die auf mehr oder minder natürliche Weise zusammengewachsen waren. Es gab sogar Wachtürme: besonders hohe Bäume, auf denen Elben standen und die nahenden Reiter beobachteten.
Ein breiter Wassergraben umgab das seltsame Gebilde, und Gordos Trupp ritt über eine heruntergelassene Zugbrücke. Die Reiter gelangten auf einen großen, lichtdurchfluteten Burghof. Der Wall aus Bäumen wies zahlreiche Lücken auf, die den Strahlen der Sonne Durchlass boten. Die Gardisten stiegen ab und streckten ihre verkrampften Glieder. Auch Albin war froh, dass ihr Ritt endlich ein Ende gefunden hatte. Er war das Reiten nicht gewohnt und hatte bestimmt mehr wundgeriebene Stellen am Leib als Finger an beiden Händen.
Gordo kam herbei und sagte zu Findig: »Ich werde dich und deinen Begleiter sofort zu König Durin bringen. Eure Botschaft scheint wichtig zu sein. Und was Waldo und sein Gesindel so treiben, wird unseren Herrscher auch interessieren.«
Während seine Männer die Gämsen versorgten, betrat Gordo mit Albin und Findig das Innere der Burg. Staunend betrachtete Albin die zahlreichen Wandteppiche und die Verzierungen aus Gold, Silber und Edelsteinen. Solche Pracht hatte er bisher nur in der Klosterkirche gesehen. Und wenn er ehrlich war, war das hier weit beeindruckender. Wandte er den Blick von den Kostbarkeiten ab und sah die Wände, den Boden und die Decke an, wurde nur zu deutlich, dass dies kein Bauwerk aus Menschenhand war. Es gab kaum gerade, glatte Flächen. Alles bog und wölbte sich, überlagerte sich, schien gar zu leben, als gingen er und seine Begleiter durch den Leib eines riesigen Tieres.
In einem sechseckigen Saal, in dem sich mehrere
Elben aufhielten, blieben Findig und Albin zurück. Gordo schritt durch eine von vier Elbensoldaten bewachte Tür, um seinem König Meldung zu erstatten. Die anderen Elben, die silberdurchwirkte Gewänder trugen, warfen den beiden abgerissenen Neuankömmlingen neugierige Blicke zu.
»Bleib ganz ruhig«, sagte Findig leise zu Albin. »Und besinn dich auf deine Stärke!«
Der zweite Satz schien keinen Sinn zu ergeben. Aber bald sollte Albin erfahren, was sein Gefährte gemeint hatte.
Gordo kehrte schon nach kurzer Zeit zurück und erklärte, dass König Durin sie zu sprechen wünsche. Hinter der bewachten Tür lag ein weiterer Raum, viel größer als der vorherige, aber unbewohnt, wie es Albin schien. Die einzigen sichtbaren Lebewesen waren grün umrankte Bäume, die aus dem Boden wuchsen und ihre Kronen der Sonne entgegenreckten. Ja, die Sonne schien tatsächlich herein, denn der Saal hatte kein Dach. Es war ein kleiner Wald inmitten der Burg. Gordo schritt zwischen den Bäumen hindurch. Albin und Findig folgten ihm und vernahmen ein wütendes Fauchen, das aus dem Halbdunkel vor ihnen drang. Das Geräusch wiederholte sich und wurde lauter, je näher sie ihm kamen. Es stammte von zwei spitzohrigen Raubkatzen, Luchsen, die auf einem breiten, starken Ast saßen. Die fast rehgroßen Tiere entblößten ihre Fangzähne und schienen bereit zum Angriff auf ihre Beute, die in den unteren Asten desselben Baums saß.
Die drei Elben blieben stehen und betrachteten die seltsame Szene. Als das dritte Wesen, das nur undeutlich zu sehen war, höher kletterte und die beiden Luchse zurückzuckten, erkannte Albin seinen Irrtum:
Die Raubkatzen waren die Beute, nicht die Jäger. Sie fauchten aus Erregung und Angst und zogen sich immer weiter auf dem Ast zurück. Was für ein Wesen mochte das sein, das gleich zwei der großen Katzen in Furcht versetzte?
Der Kletterer war deutlich zu sehen, als er sich auf der Höhe der Luchse aus dem Laubwerk schälte. Er war ein Nebelkind, wie seine geringe Größe und die nackten Vogelfüße, deren lange Zehen sich um die Aste krümmten, bewiesen. Die Luchse hätten einen ausgewachsenen, starken Menschen töten können, einen viel kleineren Elb erst recht, doch ihn schien das nicht zu kümmern. Er trug Hosen aus dunklem Wildleder und ein ärmelfreies Wams aus demselben Material. Bei jeder Bewegung spannten sich die beachtlichen Muskeln seiner nackten Arme. Ansonsten war er von eher schlanker, sehniger Gestalt. Mit Sicherheit war er nicht mehr jung, was tiefe Linien in seinem
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