Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)
Sensationslust sich wechselseitig verstärkten und über soziale Milieugrenzen hinweg die Aufmerksamkeit okkupierten.
Eine Fülle von interessanten Dokumenten unter anderem zur Nervositäts-Debatte, zur Erfahrung der Beschleunigung und zu Umweltproblemen findet sich in dem von Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt herausgegebenen Band »Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871–1914« (Darmstadt 1997). In ihrem Vorwort betonen die Herausgeber die Ambivalenz der Erfahrungen unter den wilhelminischen Zeitgenossen: »Für die Miterlebenden vor 1914 war es vor allem eine Periode rasant sich vollziehender Umbrüche, auf die sie mit Zukunftsangst, zum Teil im Bewußtsein der neuen Möglichkeiten auch mit Optimismus, ja Euphorie reagierten.«
Wie in kaum einem anderen Werk spiegelt sich die widersprüchliche Bewusstseinslage in den Tagebüchern des Intellektuellen, Verlegers und Kunstmäzens Harry Graf Kessler, die im Klett-Cotta-Verlag erschienen sind: »Das Tagebuch« (Bd. 2:1892–1997; Bd. 3:1897–1905; Bd. 4:1906–1914; Bd. 5:1914–1916; Bd. 6:1916–1918; Stuttgart 2004–2008). Kessler kannte sie alle, die Künstler, Schriftsteller und Politiker seiner Zeit. Seine umfangreichen Notate sind ein einzigartiges Zeugnis zur Mentalitäts- und Kulturgeschichte des Kaiserreichs. Was er an scharfsinnigen Beobachtungen aus den Berliner Salons mitteilt, wirft Schlaglichter auf die ebenso selbstbewusste wie unsichere wilhelminische Gesellschaft um die Jahrhundertwende.
Auf einen frappierenden Widerspruch im Leben Kesslers machen seine Biographen Laird M. Easton: »Der Rote Graf. Harry Graf Kessler und seine Zeit« (Stuttgart 2005) und Friedrich Rothe: »Harry Graf Kessler. Biographie« (München 2008) aufmerksam: Seine Homose xualität wie auch seine Sensibilität für die künstlerische Avantgarde stempelten ihn in der wilhelminischen Gesellschaft zu einem Außenseiter. Zugleich aber war er, was seine politischen Überzeugungen betraf, ein nicht ganz untypischer Vertreter der wilhelminischen Generation. Er stand, wie viele seiner Zeitgenossen, unter dem Einfluss Friedrich Nietzsches, und von ihm – so Easton – übernahm er einen »gewissen rhetorischen furor teutonicus «. Seine Bewunderung für französische Kunst und englischen Habitus schloss eine Unterstützung der aggressiven deutschen »Weltpolitik« und Flottenrüstung keineswegs aus. Und er teilte die weitverbreitete Überzeugung von der Unvermeidlichkeit eines großen europäischen Krieges. Er könne, schrieb er im September 1911 seiner Schwester, »nicht behaupten, daß mir diese Perspektive sehr zuwider ist«.
Dass die Erfahrung der Beschleunigung und einer tiefen Verunsicherung keineswegs auf das wilhelminische Deutschland beschränkt blieb, sondern alle europäischen Gesellschaften in mehr oder weniger starkem Ausmaß vor 1914 prägte, veranschaulicht der Wiener Kulturhistoriker Philipp Blom in seinem Porträt: »Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914« (München 2009). Der Autor nähert sich der Epoche nicht in einem analytischen Zugriff, sondern durch ein impressionistisches Verfahren, gleichsam mit dem Objektiv einer Kamera. Jedes der fünfzehn Kapitel steht für ein Jahr, in dem jeweils ein bestimmtes Leitthema entfaltet wird. Den Auftakt macht die Pariser Weltausstellung von 1900, die das neue Jahrhundert mit seiner charakteristischen Mischung aus Fortschrittsgläubigkeit und Zukunftsangst einläutete. Man liest von starken Frauen und verunsicherten Männern, von neuen Technologien und alternativen Lebensformen, von schrecklichen Kolonialverbrechen und ermutigenden Friedenskongressen, von revolutionären wissenschaftlichen Entdeckungen und faszinierenden Neuerungen in Kunst und Malerei. Insgesamt ein beindruckend vielschichtiges Panorama einer Zeitenwende, die angesichts der Schrecken des Ersten Weltkriegs gern als Belle Époque verklärt wurde, doch alle Keime des Untergangs bereits in sich trug.
V.
Antisemitismus, Nationalismus, Militarismus
Am 11. März 1900 wurde in Konitz, einer Kleinstadt in Westpreußen, ein 18-jähriger Gymnasiast ermordet. Die Ermittlungen nach dem Täter blieben erfolglos, und je länger die Polizei im Dunkeln tappte, desto mehr machte sich ein Klima der Angst und der Gerüchte breit. Der junge Mann, so erzählte man sich, sei Opfer eines jüdischen Ritualmords geworden. Der Verdacht heizte die Stimmung auf. Seit Ende März wurde die kleine jüdische Gemeinde der Stadt terrorisiert.
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