Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)
Wechselbeziehung zwischen der aufkommenden Massenpresse und der weiter im Stil traditioneller Kabinettsdiplomatie betriebenen Außenpolitik. Vom enormen publizistischen Echo auf das »Krügertelegramm« Wilhelms II. 1896, über die Auseinandersetzungen um den Burenkrieg bis hin zu den Kampagnen in Zusammenhang mit dem deutschen Schlachtflottenbau und den Marokkokrisen spannt sich der Bogen. Das Ergebnis: Neben dem Wettrüsten hat nichts so sehr die Beziehungen zwischen beiden Ländern vor 1914 vergiftet wie die Berichterstattung der Presse mit ihren wechselseitigen Verdächtigungen und Schuldzuweisungen. Außen- und rüstungspolitische Differenzen wurden dadurch ideologisch aufgeladen und zu Fragen des nationalen Prestiges erklärt, gegenseitige Fehlwahrnehmungen verstärkt und Feindbilder verfestigt.
Wie reformfähig war das deutsche Kaiserreich? Diese Frage hat die Historiker immer wieder beschäftigt. Den wohl anregendsten Beitrag dazu hat die amerikanische Historikerin Margaret Lavinia Anderson geleistet, die bereits mit ihrer Biographie des Zentrumspolitikers Ludwig Windthorst (1988) hervorgetreten war.: »Practicing Democracy« (Princeton 2000), auf Deutsch erschienen unter dem Titel: »Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im deutschen Kaiserreich« (Stuttgart 2009). Anderson sieht das wilhelminische Deutschland bereits vor 1914 auf dem Weg zur Demokratie, und zwar als Folge eines praktischen Lernprozesses im Umgang mit dem allgemeinen, gleichen und geheimen Männerwahlrecht auf Reichsebene. Tatsäch lich sind die demokratisierenden Effekte der frühen Einführung des Reichstagswahlrechts nicht zu unterschätzen. Die wahlberechtigten Teile der Bevölkerung gewöhnten sich an Formen der politischen Partizipation und machten, wie die hohe Wahlbeteiligung vor 1914 zeigte, davon in steigendem Maße Gebrauch. Parallel dazu entwickelte sich ein »politischer Massenmarkt« (Hans Rosenberg) mit modernen Parteien, großen Interessenverbänden und einer breit gefächerten Medienlandschaft. Doch Politisierung und Demokratisierung gingen nicht einher mit einer Parlamentarisierung des politischen Systems, das heißt der Bildung einer vom Vertrauen des Reichstags und nicht des Monarchen abhängigen Regierung – ein bis 1918 unaufgelöster Widerspruch, den zu konstatieren auch die amerikanische Historikerin nicht umhin kann.
IV.
Nervöse Reizbarkeit
Seit 1880 häuften sich in Deutschland die Klagen über Nervosität und Nervenschwäche. »Neurasthenie« – der vom New Yorker Nervenarzt George M. Beard geprägte Begriff – machte auch im Kaiserreich rasch Karriere. Um die Jahrhundertwende war hier das Gefühl weitverbreitet, dass man in einem »Zeitalter der Nervosität« lebe. So lautet auch der Titel eines Buches von Joachim Radkau, das auf faszinierende Weise Medizin-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte verbindet (München und Wien 1998). Der Untertitel »Deutschland zwischen Bismarck und Hitler« weckt allerdings falsche Erwartungen. Der Schwerpunkt des Werkes liegt auf den Jahrzehnten zwischen 1880 und 1914, umfasst also vor allem die Zeit des wilhelminischen Deutschlands.
Nachdrücklich betont Radkau das »Doppelgesicht der Nervosität«: »Sie war ein kulturelles Konstrukt und zugleich eine echte Leidenserfahrung.« Gestützt auf eine Vielzahl neuer Quellen, darunter vor allem Patientenakten aus psychiatrischen Kliniken, umkreist der Autor alle Aspekte des Nerven-Diskurses vor 1914. Einerseits zeigt er den Zusammenhang zwischen der Zunahme nervöser Krankheiten und den Veränderungen in nahezu allen Bereichen des Erwerbslebens. Andererseits macht er deutlich, dass das Reden über Nervosität »über weite Strecken ein halbverdeckter Diskurs über die Sexualität« war, die im wilhelminischen Deutschland mit starken Tabus belastet war. Eine der Hauptursachen neurasthenischer Beschwerden gerade bei Männern war die Onanie, die für viele mit Ängsten und Schuldgefühlen belastet war. Der Autor nennt sie »die große Angstlust schlechthin«.
Besonders anregend sind Radkaus Beobachtungen über »die weiche Seite des Wilhelminismus«, die sich hinter der Pose betonter Schneidigkeit verbarg. Denn in der Geschichtsschreibung zum Kaiserreich herrscht immer noch die Neigung vor, die männlich-martialischen Selbstentwürfe und Leitbilder mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu identifizieren. Radkaus Studie beschränkt sich jedoch nicht auf die psychosozialen Befindlichkeiten der Zeitgenossen
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