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Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)

Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)

Titel: Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ullrich
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Sündenböcken für alle negativen Folgen der Modernisierung zu machen, weit verbreitet war. Wie auch unter gebildeten Protestanten antisemitische Klischees und Stereotypen immer einflussreicher wurden, zeigt Uffa Jensen: »Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert« (Göttingen 2005). Im Zentrum der Studie steht eine Analyse des sogenannten »Berliner Antisemitismusstreits« von 1879/80 – ein Begriff, den der Autor für verfehlt hält und ihn ersetzt wissen möchte durch die Formulierung: »Der erste Streit über jüdische Identität in der bürgerlichen Bildungskultur«.
    Besonders widerwärtige Züge nahm der Antisemitismus bereits vor 1914 in den Bädern an der Nord- und Ostsee an. Dem vernachlässigten Thema hat Frank Bajohr eine instruktive Studie gewidmet: »›Unser Hotel ist judenfrei‹. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert« (Frankfurt a.M. 2003). Die Darstellung beginnt mit einer Schilderung der Zustände auf Borkum, einer Hochburg des Antisemitismus bereits um die Jahrhundertwende. Ein Inselführer von 1897 pries als »besonderen Vorzug« Borkums, »daß es judenrein ist«. In den Nordseebädern breiteten sich judenfeindliche Ressentiments vor dem Ersten Weltkrieg geradezu epidemisch aus, und nicht besser sah es in den Ostseebädern aus. »Eine vergleichbare Massierung antisemitischer Erholungsorte« habe es »in keiner anderen deutschen Ferienregion« gegeben, stellt Bajohr nüchtern fest. Wie immer die Juden auf die feindselige Abwehr reagierten, sie konnten es den Antisemiten nie recht machen: Traten sie selbstbewusst auf, dann galten sie als »protzig« und »unverschämt«; übten sie sich in betonter Bescheidenheit, so wurde ihr Verhalten als »süßlich-zuvorkommend« oder »schmierig-unaufrichtig« denunziert. Auch dieses Buch macht also deutlich, dass der Antisemitismus in seiner weit ins Alltagsleben hineinwirkenden gesellschaftlichen und politischen Virulenz schon für die Zeit des Kaiserreichs ernster genommen werden muss, als dies häufig geschieht.
    Zur Speerspitze des Antisemitismus und Radikalnationalismus entwickelte sich vor 1914 der Alldeutsche Verband. Eine umfassende Untersuchung über das unheilvolle Wirken dieser Organisation hat Rainer Hering vorgelegt: »Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1939« (Hamburg 2003). Die rund 20000 Mitglieder kamen, wie sorgfältig belegt wird, aus der Mitte der Gesellschaft. Sie rekrutierten sich aus den akademischen Eliten, vor allem aus Vertretern des Bildungsbürgertums. Das Urteil über die Wirkung der alldeutschen Hetze lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: »Kein anderer Agitationsverband hat rassistisches Denken derart ›salonfähig‹ gemacht … Von dort sickerte es über die Multiplikatoren der politischen Bildung – Professoren, Lehrer, Ärzte, Juristen, Journalisten, Schriftsteller – in die breite Bevölkerung.« Zwar bezeichnete sich der Alldeutsche Verband als »überparteilich«, doch das war, wie gezeigt wird, nichts weiter als Ideologie. Denn die Verbandsführung unterhielt enge Beziehungen nicht nur zu anderen nationalistischen Organisationen, etwa dem deutschen Flottenverein oder der Deutschen Kolonialgesellschaft, sondern auch zu rechten politischen Parteien, im Kaiserreich besonders zu den Nationalliberalen und zu den Konservativen. Zum ersten Mal wird hier das weitgespannte Netz personeller und institutioneller Verflechtungen herausgearbeitet, das der Alldeutsche Verband knüpfen und für sich nutzen konnte.
    Eine Spinne in diesem Netzwerk war der langjährige Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß, dem Johannes Leicht eine biographische Studie gewidmet hat: »Heinrich Claß 1868–1953. Die politische Biographie eines Alldeutschen« (Paderborn 2012). Im Denken und Wirken von Claß verband sich die Vision einer deutschen Weltmachtstellung mit dem Konzept einer ethnisch und kulturell homogenen »Volksgemeinschaft«. Ihren radikalsten Ausdruck fanden diese Ideen in seinem berüchtigten, unter Pseudonym 1912 veröffentlichten Bestseller »Wenn ich der Kaiser wär’«, der sich, so Leicht, wie »ein Maßnahmekatalog zur Errichtung eines totalen Staates« liest: »Während die rassistisch definierte deutsche ›Volksgemeinschaft‹ in relativer Rechtssicherheit hätte leben können, wären andere Gruppen, vor allem Juden, Sozialdemokraten, ethnische Minderheiten sowie fremde Staatsangehörige, in die Rechtlosigkeit gestoßen

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