Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)
Wilhelms II. Sie versteht sich zugleich als ein Beitrag zur politischen Geschichte des Wilhelminismus. In der nervösen Ungeduld und Reizbarkeit, die er als ein schichten- und klassenübergreifendes Mentalitätsmuster beschreibt, erkennt er auch ein spezifisches Merkmal der deutschen »Weltpolitik« seit 1897. Tatsächlich gibt es hier verblüffende Wechselbeziehungen, die in der Debatte um die Entstehung des Ersten Weltkriegs noch nicht genügend beachtet wurden. Doch Radkau überstrapaziert seinen Ansatz, wenn er glaubt, daraus eine grundlegende Korrektur der Interpretation Fritz Fischers zum Kriegsausbruch ableiten zu können – pointiert zusammengefasst in der Kapitelüberschrift: »Die Überwindung der Nervosität als nationale Aktion«. Neben den mentalen Voraussetzungen, auf die der Autor zu Recht verweist, bleibt die Analyse der sozioökonomischen und politischen Ursachen und Bedingungen des deutschen »Griffs nach der Weltmacht« unverzichtbar.
An Radkaus Untersuchung schließt das Buch von Andreas Killen an: »Berlin Electropolis. Shocks, Nerves, and German Modernity« (Berkeley–Los Angeles–London 2006). Es verbindet den Nervositäts-Diskurs mit der Entwicklung Berlins zur modernen Kapitale. Der beschleunigte technisch-industrielle Wandel, die Revolution der Verkehrs- und Kommunikationsmittel, die Entstehung einer Massenkultur – all das brachte, wie der Autor zeigt, nicht nur Erleichterungen und Attraktionen mit sich, sondern auch neue Anforderungen und Belastungen, welche die Nerven angriffen und die Gemüter reizten. Wie sich die rasanten Veränderungen des großstädtischen Lebens in der Berliner Tagespresse abbildeten, hat Peter Fritzsche eingehend untersucht: »Als Berlin zur Weltstadt wurde. Presse, Leser und die Inszenierung des Lebens« (Berlin 2008).
Tempo war ein Lieblingswort der Wilhelminer. Die Erfahrung der Beschleunigung erstreckte sich auf alle Lebensbereiche – von der hohen Politik bis in den Arbeitsalltag. »Heute aber reißt die geschäftliche Unrast alles in ihrem Wirbel mit sich. Jeder empfindet die Notwendigkeit, rasch zu gehen. Wer stecken bleibt, dem ist nicht zu helfen.« Das schrieb der französische Journalist Jules Huret zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Berlin. Seine Reportagen, die neben Alfred Kerrs Briefen aus der Reichshauptstadt von 1895 bis 1900 (»Wo liegt Berlin?«, hrsg. von Günther Rühle; Berlin 1997) zu den wichtigsten kulturgeschichtlichen Zeugnissen des Umbruchs um 1900 gehören, sind wiederaufgelegt worden: »Berlin um Neunzehnhundert« (Berlin 1997).
Dem Streben nach Temposteigerung um jeden Preis entsprachen die neuen Verkehrsmittel – allen voran das Automobil. Es avancierte bereits vor dem Ersten Weltkrieg zum Inbegriff des Fortschritts. »Wir werden nie Gefahr laufen, mit unausstehlichen Menschen in ein Kupee gesperrt zu werden«, pries der Schriftsteller Otto Julius Bierbaum 1903 die Vorzüge des Autofahrens gegenüber der Eisenbahn. Die Auswirkungen des frühen Automobilismus auf die wilhelminische Gesellschaft hat Barbara Haubner erforscht: »Nervenkitzel und Freizeitvergnügen. Automobilismus in Deutschland 1886–1914« (Göttingen 1998). Eine aufschlussreiche Lektüre, denn die Autorin zeigt, wie unpopulär das neue Verkehrsmittel zunächst war. Autos verursachten Lärm, wirbelten Staub auf und verpesteten die Luft. Sie machten die Pferde der Kutschen scheu und gefährdeten spielende Kinder. Die Rücksichtslosigkeit, mit der viele Autofahrer ihr Recht auf die Straße beanspruchten, erzeugte immer wieder Unmut. Nicht selten wurden die fahrenden Vehikel mit Steinen beworfen oder durch Blockaden am Weiterfahren gehindert. Vor allem aber: Autos waren vor 1914 noch ein Luxusgut, das sich nur Wohlhabende leisten konnten. In die Proteste mischten sich klassenkämpferische Töne gegen die »Geldprotze«, die sich ein Freizeitvergnügen auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung verschafften.
Mit einer anderen Art von Sensation befasst sich die Studie von Philipp Müller: »Auf der Suche nach dem Täter. Die öffentliche Dramatisierung von Verbrechen im Berlin des Kaiserreichs« (Frankfurt a.M. 2006). Sie spürt den Verbrechen in der wilhelminischen Metropole und ihrer Darstellung in den großen Blättern der Berliner Zeitungsverlage nach. Anhand zweier spektakulärer Fälle, dem des Raubmörders Rudolph Hennig und dem des »Hauptmanns von Köpenick«, Wilhelm Voigt, zeigt der Autor, wie dramatisierende Berichterstattung und öffentliche
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