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Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)

Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)

Titel: Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ullrich
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Demonstranten zogen mit »Hepp-Hepp«-Rufen durch die Straßen, warfen Fensterscheiben ein und drohten, alle Juden umzubringen. Von Konitz breiteten sich die Unruhen auf benachbarte Orte aus. Ihren traurigen Höhepunkt erreichten sie Anfang Juni, als eine Menge in die Konitzer Synagoge eindrang und dort schwere Verwüstungen anrichtete.
    Mit den Konitzer Ereignissen haben sich zwei Historiker parallel beschäftigt: Christoph Nonn: »Eine Stadt sucht ihren Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich« (Göttingen 2002) und Helmut Walser Smith: »Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt« (Göttingen 2002). Ein Vergleich beider Bücher ist reizvoll, denn die Autoren setzen, obwohl sie im Wesentlichen von denselben Quellen ausgehen, ganz verschiedene Akzente, und sie kommen auch zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen.
    Christoph Nonn interessiert sich vor allem für die Frage, wie Gerüchte entstehen und was sie bewirken können. Dass die Ritualmordlegende unter allen Gerüchten am meisten Anklang fand, führt er nicht auf tiefverwurzelte antisemitische Überzeugungen zurück, sondern auf »die Faszination des Bizarren«, die von dieser Legende ausging. Ihre Akzeptanz bis weit ins Bürgertum hinein sei begünstigt worden durch Unkenntnis der religiösen Riten und Gebräuche der Juden. Trotz nachbarlicher Nähe hätten christliche und jüdische Einwohner in getrennten Welten gelebt. Glaubt man dem Autor, so war es ein diffuses Gemisch aus Angst, Ignoranz und Geltungsbedürfnis, das zum Auslöser der gewalttätigen Auschreitungen wurde. Der Antisemitismus tritt als Erklärungsmuster in den Hintergrund. Jeden falls sind die Konitzer Ereignisse für Nonn kein Beispiel, aus dem sich Schlüsse ziehen ließen auf den weiteren Gang der deutschen Geschichte.
    Eine entgegengesetzte Position vertritt Helmut Walser Smith. Für ihn sind die antisemitischen Exzesse in Konitz »die Vorboten einer Katastrophe, die vierzig Jahre später völlig andere Ausmaße annehmen sollten«. Dem amerikanischen Historiker geht es darum, einen historischen Prozess zu beschreiben, der einen latenten Antisemitismus manifest werden ließ und eine eigene Gewaltdynamik entfesselte. Zu Recht kritisiert er, dass die Forschung zum Kaiserreich sich bislang auf die Analyse antisemitischer Ideen und ihrer Verbreitung in Parteien und Verbänden konzentriert, Untersuchungen auf lokaler Ebene hingegen vernachlässigt habe. Gerade der mikrogeschichtliche Zugriff biete jedoch bessere Voraussetzungen, um den Antisemitismus in seiner konkreten Ausprägung und Wirkungsweise zu verstehen. Anders als Nonn begreift Walser Smith die Gerüchte als Bruchstücke einer Erzählung, die, richtig gelesen, direkt hineinführt ins trübe Reich antisemitischer Fiktionen und Phantasien. In einem langen Exkurs schildert er, wie die Legende vom Ritualmord im 12. Jahrhundert entstand und bis in die Neuzeit hinein »als eine Unterströmung im kollektiven Gedächtnis haften« blieb, um bei Ausbrüchen antisemitischer Gewalt, etwa den »Hepp-Hepp«-Krawallen 1819, erneut zum Vorschein zu kommen. Vor diesem Hintergrund entwickelt der Autor seine Kernthese: Die Demonstranten in Konitz folgten einem vertrauten Handlungsmuster. Sie drohten zwar, die Juden umzubringen, hatten aber nicht die Absicht, es wirklich zu tun. Sie begnügten sich damit, Gewalt rituell zu inszenieren. Für die Juden indes bedeutete das Schauspiel öffentlicher Erniedrigung eine traumatische Erfahrung. Mit einem Schlage fühlten sie sich aus der Gemeinschaft ausgestoßen, was faktisch einem »gesellschaftlichen Tod« gleichkam. »Nicht die Juden, sondern ihre christlichen Beschuldiger verübten einen Ritualmord« – in dieser Pointe fasst der Autor seine Überlegungen zusammen.
    Christoph Nonns Arbeit steht in einer Tradition deutscher Geschichtsschreibung, die immer noch geneigt ist, den Antisemitismus im Kaiserreich in seiner Virulenz zu unterschätzen. Helmuth Walser Smith hingegen macht ebendiese Virulenz sichtbar, und er zeigt, wel che latent wirksame Bedrohung davon ausging. Gestützt wird seine Position durch eine wichtige Untersuchung von Olaf Blaschke: »Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich« (Göttingen 1997). Sie rückt der Legende zu Leibe, der zufolge Katholiken weniger judenfeindlich gewesen seien als Protestanten. Vielmehr wird überzeugend nachgewiesen, dass im deutschen Katholizismus die Neigung, die Juden zu

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