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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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Leiche zu vergraben.«
    »Nein!«, protestierte Odd, kam auf die Beine und setzte sich zu ihm auf die Armlehne. Elias hatte diesen Satz in den vergangenen Wochen öfter gesagt, und diesmal hatte Odd eine Antwort parat:
    »Es wäre ein Zeichen tief empfundener Freundschaft, wenn ich dir helfen würde, eine Leiche auszugraben.«
    Berger sank in seinen Stuhl zurück, sagte nichts mehr und starrte nur noch unverwandt an die Decke.
    Ihm helfen, dachte Odd. Das ist es, was ich tun sollte. Ihm helfen, diese Situation durchzustehen. Nicht an die Zukunft zu denken. Denn es gibt keine.

13
    Mittwoch, 31. Dezember
    I m Aufzug, der ihn von der sechsten Etage des Präsidiums nach unten beförderte, dachte Roar Horvath an die Vernehmung, die er durchführen wollte. Er hatte sich wie immer ein klares Ziel gesetzt und eine Strategie zurechtgelegt. Natürlich war es notwendig, diese Strategie flexibel zu handhaben und keine wichtigen Aspekte zu vernachlässigen, die während der Vernehmung unerwartet auftauchen konnten. Er hatte den Morgen dazu verwendet, ein weiteres Mal den Stoß mit Vernehmungsprotokollen durchzugehen. Hatte sich den Bericht vorgenommen, den ein Ermittlungskollege über den privaten Hintergrund der ermordeten Frau angefertigt hatte, und ihn mit eigenen Kommentaren und Ergänzungen versehen. Er vergegenwärtigte sich die wichtigsten Fragen, die er Mailin Bjerkes Schwester stellen wollte.
    Er erblickte sie sofort, als er aus dem Aufzug kam. Sie stand ein paar Meter von der Rezeption entfernt, mitten in der Eingangshalle. Als er seine Hand ausstreckte und sich vorstellte, kam er sich mit einem Mal völlig unvorbereitet vor. Er musste sich anstrengen, um ihrem Blick standzuhalten, und bemerkte, dass er ihre Antwort nicht mitbekommen hatte. Er hatte schon viele junge Frauen vernommen. Hässliche und attraktive waren darunter gewesen, die meisten irgendwo dazwischen. Er sollte professionell genug sein, sich von so etwas nicht beeinflussen zu lassen. Er riss sich zusammen, als er sich umdrehte und vorausging. Aufgepasst, Roar, dachte er. Konzentrationsstufe fünf.
    »Herzliches Beileid«, sagte er plötzlich, als sie in der engen Kabine des Aufzugs standen. Sie war fast genauso groß wie er, ihre Haarfarbe irgendwo zwischen Rot und Braun. Ihre Augen sahen in dem grellen Licht unglaublich grün aus.
    Sie schlug schweigend den Blick nieder.
    »Das muss für die nächsten Angehörigen eine furchtbare Zeit sein.«
    Roar hielt sich eigentlich für überdurchschnittlich geschickt, wenn es darum ging, mit Menschen in schwierigen Situationen zu reden. Doch jetzt kam er sich wie ein Elefant vor.
    Er schloss die Bürotür hinter ihr und nahm den Hauch ihres Parfüms wahr. Pass auf, verdammt!, ermahnte er sich. Konzentrationsstufe acht! Stufe zehn war die höchste auf seiner Skala.
    Sie war normal gekleidet, bemerkte er, während er hinter seinem Schreibtisch Platz nahm. Einen Anorak, der zu groß aussah. Darunter einen grünen Wollpullover. Eine schwarze, nicht allzu enge Hose und hochhackige Stiefel. Sie schien nahezu ungeschminkt zu sein. Ihre Finger waren lang und schmal, die Nägel gepflegt. Roar wiederholte die Beschreibung im Stillen, das gab ihm das Gefühl, die Situation besser im Griff zu haben.
    »Wir haben seit mehreren Tagen versucht, Sie zu erreichen«, begann er. »Doch niemand wusste genau, wo Sie sich aufhalten.«
    »Wer ist niemand?«, fragte sie. Ihr Stimme war ruhig und ziemlich tief.
    »Ihre Eltern. Sie haben Sie seit Heiligabend nicht mehr gesehen.«
    Er hatte sich darüber gewundert, dass sie die ersten Tage nach dem Schock nicht gemeinsam mit ihren Angehörigen verbracht hatte.
    »Wann haben Sie Ihre Schwester das letzte Mal gesehen?«, wollte er wissen.
    »Im Sommer«, antwortete Liss Bjerke und schaute ihm direkt in die Augen. Inzwischen hatte er sich an ihren Blick gewöhnt.
    »Sie hatten kein besonders enges Verhältnis zueinander?«
    Lis Bjerke glättete die Wildlederhandschuhe auf ihren Oberschenkeln.
    »Warum glauben Sie das?«
    »Tja … es gibt doch wohl Unterschiede, wie eng das Verhältnis von Geschwistern sein kann.«
    »Haben Sie Geschwister?«, fragte sie.
    Die Vernehmung dauerte erst ein paar Minuten und hatte schon einen vollkommen anderen Verlauf genommen, als er geplant hatte. Doch anstatt ihrer Frage auszuweichen, antwortete er:
    »Eine Schwester und einen Bruder.«
    »Und Sie sind der Älteste?«
    »Gut geraten«, sagte er lächelnd.
    »Mailin bedeutete mir mehr als jeder andere Mensch

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