Die Netzhaut
eine kurze Handbewegung. Dabei rutschte sein Ellbogen unbeabsichtigt von der Stuhllehne.
»Sie haben den Status eines Zeugen«, erklärte Roar. »Sie waren am Abend des 11. Dezember mit Mailin Bjerke verabredet. Sie hat Ihnen eine SMS geschickt. Es war ihre letzte Textnachricht.«
Berger beugte sich vor und knetete mit beiden Händen seine teigigen Wangen.
»Eine SMS , sagen Sie?« Er steckte eine Hand in die Tasche seines verschlissenen Cordsakkos und zog ein Handy hervor. »Am 11. Dezember?« Er suchte eine Weile. »Sie haben recht, Herr Horvath. Was Sie alles wissen! ›Komme ein paar Minuten später‹, steht hier. ›Der Zahlencode für das Türschloss ist 1982. Die Tür zum Wartezimmer im ersten Stock ist offen. Muss mit Ihnen reden. M. Bjerke.‹«
»Haben Sie im Wartezimmer gewartet?«
»Was soll man denn sonst in einem Wartezimmer machen?«, näselte Berger. »Aber ja, Herr Kommissar. Ich war da. Nur Frau Bjerke hatte es offenbar nicht nötig, dort aufzutauchen. Ich wollte ins Studio. Hatte schon alle darüber informiert, dass Frau Bjerke in der Sendung zu Gast sein würde. Doch auch dort ist sie nicht erschienen.«
»Inzwischen wissen Sie vermutlich auch, warum«, bemerkte Roar. »Wie lange haben Sie gewartet? Fünf Minuten? Zehn?«
Berger blickte zur stuckverzierten Decke empor.
»Ich laufe nicht mit einer Stoppuhr durch die Gegend. Aber ich war vor halb neun in Nydalen.«
»Waren noch andere Leute im Wartezimmer?«
»Keine Menschenseele. Das Licht war aus, als ich gekommen bin. Ich habe niemand gehört, niemand gesehen und niemand gerochen.« Berger richtete sich auf. Seine Stimme war ein wenig klarer geworden. »Habe eine Zigarette geraucht, danach eine Toilette auf dem Flur aufgesucht, habe sie genauso sauber wieder verlassen, wie ich sie vorgefunden hatte, und habe mich absentiert.«
»Und Sie sind niemand begegnet?«
»Das müssten Sie doch besser wissen als ich, Mr. Horvath. Ich gehe davon aus, dass Sie einen kompletten Überblick haben.«
»Haben wir«, erklärte Roar. »Bis jetzt hat jedenfalls niemand bestätigt, dass Sie das Haus in der Welhavens gate betreten oder wieder verlassen haben. Niemand außer Ihnen selbst weiß, wo Sie vor zehn nach neun gewesen sind. Zu diesem Zeitpunkt kamen Sie atemlos und eine halbe Stunde später als sonst in die Maske, um sich für die Sendung schminken zu lassen.«
Berger schloss die Augen und stützte seinen Kopf in eine Handfläche.
»Da sehen Sie mal!«, entgegnete er so müde, als würde er jeden Moment einschlafen. »Sie wissen ja schon alles. Warum stellen Sie mir überhaupt diese Fragen?«
»Weil wir wissen wollen, wie es kommt, dass Sie zwei Stunden brauchten, um bei normalem Verkehr von der Welhavens gate zum Fernsehstudio in Nydalen zu gelangen.«
Berger ließ sich tiefer in seinen Bürostuhl sinken. »Das herauszufinden, überlasse ich Ihnen, Herr Horvath. Sollte für einen mäßig begabten Polizisten nicht allzu schwer sein.«
Er machte eine schlappe Handbewegung.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht hinausbegleite und dass mein Butler nicht zur Verfügung steht.«
Roar stand auf und ging einen Schritt auf ihn zu.
»Ich bin noch nicht fertig mit Ihnen, Herr Berger. Und das nächste Mal sollten Sie in der Lage sein, sich klar und verständlich auszudrücken. Wenn nicht, werde ich dafür sorgen, dass Sie ein, zwei Tage in Untersuchungshaft verbringen, vielleicht mit irgendeinem anderen Junkie.«
Er wusste, dass es nicht besonders klug war, so etwas zu sagen. Doch es tat gut.
12
A ls Odd Løkkemo hörte, wie der Polizist die Wohnung verließ, setzte er sich in seinem Bett auf. Seine Migräne ließ langsam nach. Inzwischen hatte er sie einigermaßen im Griff, wusste genau, was er tun konnte und was er meiden musste. Am ersten Tag eines Anfalls war er so gut wie tot. Es kribbelte in der einen Körperhälfte, er sah alles doppelt, Farben tanzten an den weißen Wänden. Dann kamen die Lähmungserscheinungen. Der eine Mundwinkel hing herab, sein halbes Gesicht war gefühllos, er konnte seinen Arm nicht bewegen und das Bein nicht heben. Dann brach ein gewaltiger Schmerz wie eine riesige Flutwelle über ihn herein. Zwei Tage musste er in einem abgedunkelten Zimmer liegen, erbrach sich in einen Eimer und kroch über den Boden, um aufs Klo zu gelangen.
Während Odd mehrere Tage im Dunkeln gelegen hatte und sich wie ein Folteropfer vorgekommen war, registrierte er, dass Elias die ganze Zeit über Besuch hatte. Sicher keiner ihrer
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