Die Netzhaut
Er stand vor dem Computer und las das, was Roar geschrieben hatte.
»Eine ziemlich labile junge Dame«, bemerkte Roar. »Als ich sie nach Amsterdam fragte, war es genauso. Sie hat sich vollkommen eingeigelt.«
Viken dachte darüber nach.
»Vergiss nicht, was sie durchmacht«, sagte er in versöhnlichem Ton. »Sie muss noch mal vorbeikommen, damit sie das Protokoll unterschreiben kann. Außerdem muss sie uns helfen, den Typ zu finden, der in Mailins Büro herumgeschnüffelt hat.«
Roar setzte sich an den Schreibtisch und öffnete eine andere Datei.
»Einer der Praxiskollegen von Mailin Bjerke hat ausgesagt, sie sei möglicherweise von einem Patienten bedroht worden. Wir müssen überprüfen, ob es da einen Zusammenhang mit der Aussage ihrer Schwester gibt.«
Der Kommissar war im Begriff zu gehen, drehte sich auf der Schwelle aber noch einmal um. »Jetzt hätte ich doch fast vergessen, warum ich eigentlich gekommen bin. Ich wollte dir was erzählen.«
Er zog die Tür wieder zu. »The Boss hat es für nötig befunden, seine Weihnachtsferien zu unterbrechen und uns mit seinem Besuch zu beehren«, erklärte er in feierlichem Ton.
Viken sprach stets von »The Boss«, wenn er den vorläufigen Abteilungsleiter Sigge Helgarson meinte. Es war kein Geheimnis, dass ihr Verhältnis ziemlich angespannt war.
»Du erinnerst dich doch bestimmt, dass Frau Plåterud einen Zusammenhang mit der Ylva-Sache in Bergen in den Raum gestellt hat.«
Roar hatte diesen Morgen im Obduktionssaal noch genau in Erinnerung und begnügte sich mit einem Kopfnicken.
»Nun hat die Dame Professor Korn dazu gebracht, mit dem Boss in Verbindung zu treten. Und der hat natürlich nichts anderes zu tun, als uns damit zu beauftragen, der Sache vor Ort auf den Grund zu gehen, und zwar sofort.«
»Aha«, entgegnete Roar abwartend.
»Ist doch eine wunderbare Idee, die Ermittlungen vom Rikshospital leiten zu lassen«, sagte Viken sarkastisch. »Der Boss war also persönlich hier und hat große Reden geschwungen, was nichts anderes bedeutet, als dass wir uns in Zukunft noch wärmer anziehen müssen. Für dich persönlich heißt das übrigens, dass du gleich mal eine Tour nach Bergen unternehmen darfst, du Glückspilz.«
Viken schnippte irgendetwas von seinem Sakko weg.
»Weiber!«, brummte er, ohne zu sagen, wen er damit meinte.
14
L iss legte ihr Notizbuch beiseite und blickte sich im Café um. Die männliche Bedienung verstand dies falsch, stand sogleich neben ihr und zog sie mit seinen Blicken aus. Er verströmte immer noch einen üblen Geruch.
»Noch einen Kaffee?«
Sie hatte bereits den ganzen Tag Kaffee getrunken, nickte aber, um ihn loszuwerden. Er trug eine eng sitzende Hose, sein Hintern war klein und muskulös. Sie mochte Männer mit so schmalen Hüften nicht. Plötzlich sah sie den kleinwüchsigen Kommissar mit der Adlernase und den buschigen Augenbrauen vor sich. Auf dem Präsidium hätte sie ihm fast erzählt, was in Amsterdam geschehen war.
Sie schlug erneut ihr Notizbuch auf. Würde es ihr gelingen, eine andere Geschichte zu erfinden? Eine Geschichte, in der Zako und Rikke ein Paar wurden? Er hat seine Wohnung in der Bloemstraat aufgegeben und ist zu ihr in die Marnixkade gezogen.
Nein, noch war es zu früh für diese Geschichte.
Wo ist der Ring geblieben, Mailin?,
kritzelte sie.
Ihre Großmutter hatte Bücher über das Leben der Frauen geschrieben. Dadurch war sie bekannt geworden und bedeutete vielen etwas. Ragnhild bezeichnete sie als Pionier. Nach ihrem Tod hatte Mailin ihren Ehering bekommen. Als Zeichen, was in der Familie bewahrt werden sollte.
Hat er ihn abgezogen, bevor er dich erschlagen hat?
Sie hatte nicht bemerkt, dass der Kellner zurückgekommen war. Jetzt berührte er ihre Schulter und stellte die Tasse vor sie auf den Tisch.
»Der ist gratis. Wegen Silvester.«
Sie wollte protestieren, sich von diesem Mann nichts schenken lassen, auch nicht an Silvester. Auf den Straßen knallte es bereits, und die eine oder andere Rakete stieg in den trüben Nachmittagshimmel. Sie ertrug den Gedanken nicht, sich unter die jubelnde, feiernde Menschenmenge zu mischen. Sie musste die Stadt verlassen, sich weit genug aus ihr zurückziehen, wenn das Jahr zu Ende ging.
Wenn du dich ganz auf die Trauer einlässt, saugt sie dich auf. Ist es das, was du willst? Niemals mehr ans Licht zu gelangen?
Sie wusste nicht, woher diese Worte kamen und warum sie überhaupt in dieses Buch schrieb. Worte hatten ihr nie viel bedeutet. Doch jetzt
Weitere Kostenlose Bücher