Die Netzhaut
erkannte er eine vage Ähnlichkeit mit der Mutter, als lägen die Züge des Mädchens unter ihrem puppenartigen Gesicht verborgen.
»Vielen Dank«, sagte er und gab ihr die Hand.
Als sie im Auto saßen, kam ihm eine Idee.
»Hast du noch Zeit? Dann könnten wir zu dem Ort fahren, wo sie gefunden wurde.«
Nina schaute ihn fragend an.
»Hast du denn noch genug Zeit?«
Sein Rückflug ging erst in vier Stunden. Er wusste nicht, wie er darauf kam.
»Du willst doch wohl nicht nach Spuren suchen? Fünf Jahre später, meine ich.«
Er lächelte kurz.
»Den Superspürnasen aus Oslo ist alles zuzutrauen.«
Sie lächelte ebenfalls.
»Pech für dich, dass ich die Gegend hier so gut kenne, da werde ich wohl kaum vor Bewunderung vor dir auf die Knie fallen.«
Er mochte ihren ironischen Tonfall. Müsste er nicht am selben Abend zurückfliegen, hätte er sie auf ein Bier eingeladen. Er schaute auf ihre Finger, die sich um das Lenkrad schlossen. Sie trug mehrere Ringe, alle mit Steinen.
»Hattest du etwa Probleme mit Viken?«, erdreistete er sich zu fragen. »Bist du deswegen nach Bergen gegangen?«
Er spürte, dass diese Frage vertraulicher war, als es ihre vierstündige Bekanntschaft rechtfertigte, doch sie antwortete freimütig:
»Es ging um etwas anderes. Ich weiß, dass viele ihre Probleme mit Viken haben. Bei mir war das nie der Fall. Ich mochte ihn sogar irgendwie.«
Roar glaubte ihr. Wer Viken nicht hasste wie die Pest, der bewunderte ihn. Er ahnte, dass der Wechsel ihres Arbeitsplatzes irgendetwas mit den Bärenmorden zu tun gehabt hatte, wollte aber nicht zu aufdringlich sein.
Sie hatte das Navigationsgerät programmiert und bog an der angezeigten Stelle von der Hauptstraße ab.
»Ich weiß nicht ganz genau, wo es war.« Sie fuhr zwischen Feldern hindurch, bis sie ein Waldstück erreichten. »Dem Bericht zufolge muss es hier gewesen sein.«
Als sie den Wagen abstellte, versank die Sonne hinter den Bergen im Südwesten. Der Himmel hatte eine tiefblaue Färbung angenommen, war dunkler geworden, ohne seine Klarheit zu verlieren. Sie stießen auf einen Pfad mit Schuhabdrücken, die sich auf dem weichen Waldboden abzeichneten. Roar ging voraus. Plötzlich blieb er stehen. Hinter ein paar kleineren Hügeln mit Heidekraut, an einem Baum, der sich unter einem Felsrücken befand, erspähte er etwas. Er stapfte durch die Heide. Eine Laterne stand dort, mit einer dicken, weißen Kerze. Sie hatte vermutlich bis vor kurzem gebrannt, denn daneben lag ein Blumenstrauß, und in einer Vase standen fünf frische Rosen.
»Offenbar sind wir am richtigen Ort«, stellte Nina Jebsen fest, als sie sich neben ihn stellte. Für eine Weile blieben sie schweigend stehen. Roar erinnerte sich an das Gefühl, am Grab eines Menschen zu stehen, den man vermisste. In diesem Augenblick war er plötzlich sicher, dass zwischen den beiden Mordfällen ein Zusammenhang bestand. Als erzählte ihm dieser Ort davon, die Bäume, der Pfad, der sich fortsetzte, doch vor allem diese Blumen und diese Kerze. Er wusste, dass sich dieses Gefühl auf keinerlei Fakten stützte und ihn vermutlich eher in die Irre führte. Konzentration, sagte er sich. Stufe fünf.
Als er Viken Stunden später vom Flughafen aus anrief, hatte er sich eine Reihe von Argumenten zurechtgelegt, die den Kommissar überzeugen sollten, die Sache in Bergen weiterzuverfolgen. Die verletzten Augen und der eingeschlagene Schädel des jungen Mädchens waren nur zwei davon.
Doch ehe er auch nur ein einziges Argument vorbringen konnte, rief Viken:
»Ich werde jetzt eine Mail mit Material an das Präsidium in Bergen schicken. Kannst du die noch abrufen, bevor du zurückkommst?«
Roar klärte ihn darüber auf, dass er gerade im Begriff war, ins Flugzeug zu steigen.
Viken fluchte.
»Dann müssen wir wohl noch einmal nach Bergen. Es gibt eine neue Verbindung zu Ylva Richter.«
Er erklärte, was Liss Bjerke in dem Kissenbezug in der Hütte der Familie gefunden hatte.
»Und wenn du wieder hier bist, erzähle ich dir auch, wem sie den Zettel ausgehändigt hat!«, bellte er.
Roar verkniff sich die Bemerkung, dass er es längst erraten hatte.
19
Samstag, 3. Januar
L iss zog ihre Marlboroschachtel aus der Tasche. Sie war fast leer. Sie musste eine neue kaufen, außerdem brauchte sie Tampons und etwas zu trinken.
Während sie in den Supermarkt hineinging, warf sie einen Blick auf ihr Handy. Eine Nachricht von Rikke und von diesem Fußballer, der ausgerechnet Jomar hieß. Sie trug immer
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