Die Netzhaut
wissen, ob ich dich kenne. Und ich war blöd genug, ihm zu erzählen, dass du die Schwester von … Ich glaube nicht, dass er dir etwas antun wollte. So ist er nicht.«
»Aber verstehst du denn nicht, dass er mir im Treppenhaus die Luft abgedrückt hat?«
Jomar fluchte erneut.
»Ich habe dich gebeten, mir zu erzählen, was passiert ist.«
Sie ging darauf nicht ein.
»Als er mich im Park an den Baum gedrückt hat, da schien ihm plötzlich etwas durch den Kopf zu gehen. Er ist weggelaufen. Jim Harris heißt er, richtig? Das stimmt mit den Initialen in Mailins Terminkalender überein. Sie hatten einen Termin vereinbart. Er muss Mailin an diesem Nachmittag gesehen haben. Vielleicht war sie mit jemand zusammen. Verstehst du, was das bedeutet? Der Kerl hat gesehen, was passiert … Wo finde ich ihn?«
»Von den Orten, wo der sich rumtreibt, solltest du dich lieber fernhalten.«
Sie starrte auf die Tischplatte.
»Ich will, dass du mir hilfst!«, sagte sie plötzlich.
An den ersten Tagen, nachdem sie Mailin gefunden hatten, war sie zu nichts in der Lage gewesen. Konnte kaum denken. Doch jetzt wurde sie erneut von einer starken Unruhe erfasst, sie musste etwas unternehmen. In rasendem Tempo erzählte sie alles, was sie bisher herausgefunden hatte, und zeigte ihm die Uhrzeiten, die sie sich notiert hatte. Auch die Videoaufnahmen ließ sie nicht unerwähnt.
»Mailin wurde am Morgen nach ihrem Verschwinden gefilmt.« Liss blätterte in ihrem Notizbuch. »Die Filme tragen das Datum 12. Dezember, 05:35 Uhr.«
Es tat ihr gut, alle diese Details vor ihm auszubreiten. Fast hatte sie das Gefühl, es ginge gar nicht um Mailin, sondern um jemand anders.
Er hörte aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen. Sie kannte ihn nicht. Er war ein Außenstehender, war Mailin nie begegnet, und genau deshalb konnte sie dieses Wissen mit ihm teilen und auch mit ihm über das sprechen, was in der Hütte passiert war, über die Spuren im Schnee und den Ausdruck im Kissenbezug.
Danach schaute sie in sein Gesicht. Widerwillig begriff sie, warum Therese so wütend auf sie gewesen war. Sie mochte sein Aussehen, aber noch mehr seine entspannte und bescheidene Art. Eigentlich hatte sie gar nicht so lange bleiben wollen. Wollte ihm nur die Jacke zurückgeben und sich auf die eine oder andere Art entschuldigen. Doch jetzt saßen sie schon fast eine Stunde beisammen.
Sie stand auf.
»Muss eine rauchen.«
»Ich komm mit«, sagte er.
Er blies den Rauch ins Licht über dem Eingang und betrachtete die bleifarbenen Schwaden, die sich rasch auflösten.
»Wann sehe ich dich wieder?«, wollte Jomar wissen.
Sie spürte seinen Blick wie ein Prickeln im Gesicht. Hatte nichts dagegen, dass er nicht müde wurde, sie anzusehen. Nur den Gedanken an all die Erklärungen, die erforderlich waren, ertrug sie nicht. Warum sie ihn nicht treffen konnte, kein Interesse an ihm hatte. Warum sie so war, wie sie war, und niemals wieder mit jemand zusammen sein konnte. Plötzlich sehnte sie sich nach der Hütte. Einfach nur am Fenster sitzen und in der Dämmerung auf den Morrvann hinabblicken, während die Dunkelheit sie allmählich umhüllt. Stille.
20
Sonntag, 4. Januar, nachts
E s war schon fast ein Uhr, als sie Viljam hörte. Er hantierte in der Küche, betätigte die Toilettenspülung, ließ das Wasser im Badezimmer laufen. Das hatte bestimmt auch Mailin gehört, wenn ihr Freund spät nach Hause gekommen war. Das Lauschen auf Schritte auf der Treppe. Das Warten darauf, dass er die Tür aufmachte, zu ihr unter die Decke kroch und sich an sie schmiegte. Er brauchte nicht mit ihr zu schlafen oder zu reden. Einfach ruhig nebeneinanderliegen und langsam einschlafen. Seine Arme spüren, die sie umschlangen … Sie sitzen in einem Boot. Mailin rudert. Sie trägt einen langen, grauen Mantel. Auch ihre Haare sind grau, und die langen Strähnen hängen ihr über den Rücken. Sie flattern ein wenig im Wind. Doch nicht der Wind bewegt ihre Haare, es sind lange, weiße Würmer, die an ihrem Kopf nagen. Sie haben sich festgesaugt, und Liss vermag nicht, die Hand zu heben, um sie wegzureißen. Doch Mailin scheinen sie nicht zu stören. Sie rudert unerschütterlich Richtung Land auf ihren kleinen Strand zu. Dort wollen sie jemanden abholen. Doch sie können das Ufer nicht erreichen, denn ein Ruder fehlt, und das Boot dreht sich im Kreis.
Dreh dich nicht um, Mailin, ich darf dein Gesicht nicht sehen.
Doch Mailin hört nicht auf sie und dreht sich um.
Liss erwachte mit
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