Die Netzhaut
wegen psychischer Probleme in Behandlung, galt allerdings nicht als labil.
Am Abend des 15. November 2003 nahm Ylva Richter am Busbahnhof einen Bus ins Zentrum, nachdem sie mit Freundinnen in einer Kneipe gewesen war. Sie hatte zwar ein eigenes Auto, das sie an diesem Abend jedoch nicht benutzte, vermutlich wegen des Alkohols. Zuletzt wurde sie vom Busfahrer gesehen, als sie um circa 00:30 Uhr in der Nähe ihres Elternhauses aus dem Bus stieg. Andere Passagiere bestätigten dies. Sie kam nie zu Hause an. Um zwei Uhr wurde die Polizei alarmiert, nachdem ihr Vater vergeblich zur Bushaltestelle gegangen war, um nach seiner Tochter zu schauen. Ein Streifenwagen wurde geschickt, doch erst am nächsten Morgen eine Großfahndung eingeleitet.
Fünf Tage später wurde sie, ungefähr zwanzig Kilometer nordöstlich von ihrem Wohnort entfernt, in einem Wald gefunden. Sie trug Handschellen, war an einen Baum gefesselt und geknebelt. Sie war nackt. Ihre Kleider wurden in der Nähe unter einem Haufen mit Heidekraut entdeckt. An der Schläfe hatte sie eine klaffende Wunde, als sei sie mit einem stumpfen, schweren Gegenstand, vielleicht mit einem Stein, geschlagen worden. Doch der Schlag war nicht tödlich gewesen. Vermutlich war er ihr zugefügt worden, bevor man sie in ein Auto gezerrt hatte. An dieser Stelle folgte eine ausführliche Beschreibung ihrer verletzten Augen. Mehrere Male waren sie von einem spitzen Gegenstand, vielleicht von einer Schraube, durchbohrt worden. Nichts deutete auf sexuelle Gewalt hin. Als Todesursache wurde Erfrieren angegeben.
Die Ermittlungen waren sehr umfangreich gewesen. Über fünfhundert Zeugen waren verhört worden, von denen Nina Jebsen die interessantesten herausgesucht hatte. Eltern, Geschwister, Freunde, der Busfahrer, Passagiere. Einer Freundin zufolgte hatte Ylva von einer merkwürdigen Begebenheit erzählt, die ihr auf dem Hinweg passiert war. Ein unbekannter Mann hatte sich in der Fußgängerzone an sie gewandt und ihr einen Korkenzieher oder Dosenöffner in die Hand gedrückt. Das war einer der vielen Momente, die nie aufgeklärt worden waren, doch Roar merkte sich diesen Punkt und blätterte zurück zu der Beschreibung ihrer verletzten Augen. Die Polizei war das Register sämtlicher Gewalt- und Sexualverbrecher durchgegangen und hatte alle infrage kommenden Kandidaten verhört. Einige galten als verdächtig, in einem Fall wurde eine Untersuchungshaft in Erwägung gezogen, jedoch wieder verworfen. Der Fall war natürlich nicht zu den Akten gelegt worden, aber es war inzwischen höchst unwahrscheinlich, dass er noch aufgeklärt werden würde.
Während Roar las, hatte Nina Jebsen sich in ihren PC eingeloggt und tippte ununterbrochen und in rasender Geschwindigkeit. Als er fertig war und die Dokumentenmappe auf ihren Schreibtisch legte, schloss sie die Datei und drehte sich zu ihm um. Bevor sie ihn nach seiner Meinung fragen konnte, sagte er: »Lass uns zuerst mit ihren Eltern reden, dann sehen wir weiter.«
Das Haus der Familie Richter lag in einer Villengegend, südlich der Stadt. Der Mann, der die Tür öffnete und sich als Richard Richter vorstellte, war mittelgroß und hatte dünne, graue Haare, die mit Gel nach hinten gekämmt waren. Er verströmte einen leichten Schnapsgeruch, bemerkte Roar, als Nina Jebsen und er ins Wohnzimmer gelassen wurden.
Anne Sofie Richter trug ein Tablett herein, auf dem eine Kaffeekanne und Tassen standen. Sie war schlank und sonnengebräunt, ihre Haare waren dunkel getönt. Mit raschen Bewegungen deckte sie den Tisch und machte einen lebhaften Eindruck.
Roar war gut vorbereitet. Ehe sie sich setzten, sagte er: »Es tut mir sehr leid, wenn wir alte Wunden wieder aufreißen. Wir hätten Ihnen das gerne erspart.«
Richard Richter blieb am Ende des Tisches stehen. »Horvath war Ihr Name, nicht wahr? Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Horvath. Diese Wunden verheilen nie, falls Sie das glauben sollten. Erst gestern habe ich an das letzte Gespräch mit meiner Tochter gedacht. Ich hatte sie an diesem Abend in die Stadt gefahren. Sie drehte sich noch einmal um und lächelte mir so zu, wie nur sie lächeln konnte. ›Tschüs, Papa‹, sagte sie, ›und vielen Dank.‹ Das war das Letzte, was ich von meiner Tochter gehört habe.«
Er schwieg.
»Alles andere existiert nur in meiner Fantasie«, fügte er mit beherrschter Stimme hinzu. »Wir sind zusammen mit ihr aus dem Bus gestiegen und an der Kreuzung, an der Sie abgebogen sind, den Hügel hinaufgegangen.
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