Die Netzhaut
entgegnete er und hörte seiner Stimme an, dass es persönlicher klang, als er beabsichtigt hatte.
Sie zuckte die Schultern.
»Einmal Bergenser, immer Bergenser.«
Doch er wusste, dass noch etwas anderes dahintersteckte. Sie hatte bei der Aufklärung der sogenannten Bärenmorde eng mit Viken zusammengearbeitet und unmittelbar danach gekündigt. Roar ahnte, dass sie nicht mehr in der Lage gewesen war, weiter mit Viken zu arbeiten Der Kommissar hingegen war davon bestimmt nicht begeistert gewesen. Roar schob diese Gedanken beiseite. Er war schließlich nicht nach Bergen gekommen, um Salz in alte Wunden zu streuen.
»Hast du schon damals hier gearbeitet, als der Fall Ylva aktuell war?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Damals hatte ich gerade in Oslo angefangen. Und die Kollegen in Bergen haben alles getan, dass nichts durchsickert. Selbst heute gelingt es ihnen noch, das meiste unter der Decke zu halten.«
»Respekt«, meinte Roar, »bei dem Medienrummel, der immer gleich veranstaltet wird.«
»Vielleicht macht sich das jetzt bezahlt. Ich meine, falls es eine Verbindung zu eurem Fall geben sollte.«
Er enthielt sich eines Kommentars. Viken schien von einer solchen Verbindung nicht überzeugt zu sein. Er war immer noch stinkwütend auf Jennifer, weil sie hinter seinem Rücken gehandelt hatte. Roar musste sich eingestehen, dass er mit Unbehagen daran dachte, dass seine besonderen Beziehungen zum Rechtsmedizinischen Institut eines Tages bekannt werden könnten. Doch es war das Risiko wert. Er hatte nach seiner Scheidung verschiedene Frauen kennengelernt und es zunächst ziemlich aufregend gefunden, ständig auszugehen. Es war wie eine Erinnerung an das Leben, das er vor zehn, fünfzehn Jahren geführt hatte. Doch nach und nach war sein Jagdinstinkt ermattet. Er hatte irgendwo gelesen, dass Männer weniger Geschlechtshormone produzierten, nachdem sie Väter geworden waren. Die Natur sorgte dafür, dass sie nicht verschwanden, bevor die Nachkommen dauerhaft und gut versorgt waren. Er nahm das Parfüm seiner Kollegin wahr, die neben ihm saß, und ließ seinen verstohlenen Blick kurz über ihre Brüste und ihre Oberschenkel unter der glatten Stretchhose gleiten. Waren seine Instinkte eingeschlafen gewesen, so erwachten sie gerade wieder zum Leben. Das ist nur gesund, Roar, sagte er sich. Und seine Gesundheit sollte man nicht vernachlässigen.
Nina Jebsen fuhr mit Umsicht und nie mehr als zwei Kilometer über dem Tempolimit.
Er lehnte sich zurück.
»Was ich von der Ylva-Sache weiß, ist auf jeden Fall ein Flugticket wert. Außerdem ist es unheimlich schön hier.«
Mit einem Blick auf die Berge, die die Stadt umgaben, fügte er hinzu: »Und nicht ein Tropfen Regen.«
»Das Wetter wird doch in Zukunft überall ein Problem sein«, entgegnete sie. »Hier in der Stadt planen die Architekten bereits Bauwerke für einen Wasserpegel, der zwei Meter höher ist als heute.«
Damit keiner der Kollegen neugierige Fragen stellte, machte Nina Jebsen ihn mit niemand bekannt. Sie führte Roar in den ersten Stock des Präsidiums und begleitete ihn in ein winziges Büro, das seinem eigenen zum Verwechseln ähnlich sah.
Sie schloss die Tür hinter ihm.
»Ich arbeite gerade an drei, vier Gewaltverbrechen. Niemand weiß, dass dies kein Verhör ist.«
»Bin ich Zeuge oder Verdächtiger?«
»Schwer zu sagen.« Sie reichte ihm eine Dokumentenmappe. »Eine Übersicht über den Ylva-Fall. Ich schlage vor, du liest das erst einmal durch.«
Eine Dreiviertelstunde später war er mit den wesentlichen Fakten vertraut. Ylva Richter, neunzehn Jahre alt, aufgewachsen in Fana, südlich von Bergen. Der Vater Geschäftsanwalt, die Mutter Textilkünstlerin. Zwei jüngere Geschwister. Keine Hinweise auf Probleme in der Familie. Beide Eltern nicht vorbestraft. Beim Vater allerdings auffallend viele Bußgeldbescheide wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen. Nach dem Abitur, das sie mit guten Noten abschloss, begann Ylva ein Studium an der Handelshochschule, wohnte aber weiterhin zu Hause. War Mitglied in einem Schwimmverein und schlug sich gut bei den norwegischen Jugendmeisterschaften. Sie schien allgemein beliebt zu sein und viele Freunde zu haben. Auf dem Gymnasium hatte sie einen festen Freund gehabt, war jedoch zur Zeit ihrer Ermordung Single. Ihr Umfeld wurde als konstruktiv und gesund bezeichnet, wenn auch nicht völlig frei von Partydrogen. Doch innerhalb des Freundeskreises war niemand vorbestraft. Einer der jungen Männer war
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