Die Netzhaut
Personenbeschreibung geben. Jetzt habe ich endlich die Gelegenheit, dich genauer anzusehen.«
Er merkte sofort, dass er sie auf dieser Wellenlänge nicht erreichte.
»Aber im Ernst, Liss. Mir tut es schrecklich leid … all das, was mit deiner Schwester passiert ist.«
»All das?«
Sie hatte keinen Vorrat mehr an spitzfindigen Bemerkungen und ließ ihren Kommentar einfach stehen. Er versuchte ja nur, rücksichtsvoll zu sein.
»Ich kann gut verstehen, warum du nicht auf meine SMS geantwortet hast.«
»Kannst du das?«
»Du hattest sicher andere Sachen im Kopf als eine alte Jacke, Liss.«
Er schien großen Gefallen daran zu finden, ihren Namen auszusprechen. Bildete er sich etwa ein, ihr durch den ständigen Gebrauch ihres Namens näherzukommen?
»Ich habe sie sogar fast jeden Tag getragen«, entgegnete sie.
Er grinste.
»Du hättest sie auch aufschlagen und als Zelt benutzen können.«
Sie betrachtete ihn. Seine schrägen Augen waren überraschenderweise hellblau. Hübsch war er nicht, hatte vielmehr etwas Grobschlächtiges und Unförmiges an sich, als wäre er noch in der Pubertät. Seine Proportionen schienen noch nicht die richtige Balance gefunden zu haben. Und er hatte Pickel auf der Stirn. Offenbar fühlten sich aber nicht nur Teenager von diesem Typus angezogen, sondern auch Therese. Und natürlich Catrine, aber die war ja immer auf der Jagd nach Sex.
»Vielleicht möchtest du sie behalten?«
Sie rümpfte die Nase.
»Wenn ich eine eigene Wohnung hätte, würde ich sie mir an die Wand hängen, mit einem Autogramm von dir.«
Er lachte und unternahm nicht den Versuch, etwas Schlagfertiges zu erwidern. Er hatte überraschend weiße, regelmäßige Zähne und wirkte überaus selbstsicher. Er spielte in der ersten Liga und bekam bestimmt über eine Million im Jahr, weil er so gut gegen einen Ball treten konnte. Außerdem war Therese bestimmt nicht die einzige Frau, die hinter ihm her war. Doch von dem Augenblick an, als er zu ihnen ins Café Mono gekommen war, hatte er vor allem sie ins Visier genommen. Und seit sie in seiner Wohnung ohnmächtig geworden und später mit der Lederjacke abgehauen war, hatte er ihr vier oder fünf SMS geschrieben.
In diesem Moment fiel ihr etwas ein.
»Du kennst ihn!«, rief sie plötzlich.
Er schaute sie verblüfft an.
»Du kennst den Typen, der mir an die Gurgel gegangen ist. Ich habe gesehen, wie du kurz vorher mit ihm geredet hast. Als er in der Tür stand und Dope verkauft hat.«
Er trank einen Schluck von seiner Cola.
»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«, fuhr sie fort.
Seine schrägen Augen zogen sich noch weiter zusammen. »Du hast mich ja nicht danach gefragt.«
Er hatte recht. Er konnte schließlich nicht wissen, warum sie hinter dem Typ her war.
»Es ist mir scheißegal, ob du mit ihm irgendwelche Drogengeschäfte machst. Ich will nur wissen, wer er ist.«
»Glaubst du etwa, ich gebe mich mit irgendwelchen Dealern ab? Ich kenne ihn von der Sporthochschule.«
»Ausgerechnet.«
»Das stimmt!«, versicherte Jomar. »Aber es ist schon ein paar Jahre her. Wir haben zusammen dort angefangen.«
»Wie heißt er?«
»Jim Harris. Er war ein Riesentalent über 400 Meter. Über 800 Meter war sein Potenzial eigentlich noch größer. Er hätte ein Topläufer werden können, wenn er nicht so durchgeknallt wäre.«
»Wie, durchgeknallt?«
»Er bringt einfach nichts zu Ende, landet immer im Chaos und bringt sich in Schwierigkeiten. Früher hatte er noch Leute, die ihn angetrieben und ihm wieder auf die Beine geholfen haben, doch inzwischen haben sie wohl alle aufgegeben.«
»Er war Mailins Patient.«
»Ach wirklich?«
Sie erzählte von ihrer Begegnung in Mailins Praxis.
Jomar sagte:
»Wenn Jimmy gesehen hat, dass die Tür offen stand, hat er bestimmt gleich nachgesehen, ob zufällig Geld in den Schubladen liegt. Der hat bei jedem Dealer dieser Stadt Schulden. Darum vertickt er das Zeug jetzt auch selbst. Eine Zeitlang habe ich versucht, ihm zu helfen. Habe ihm Geld geliehen, und er hat bei mir übernachtet.«
»Ich bin sicher, dass er etwas anderes in der Praxis wollte«, sagte Liss.
»Warum glaubst du das?«
Sie berichtete ihm, was geschehen war, als er sie im Park angegriffen hatte.
»Verdammt!« Jomars Gesicht nahm plötzlich einen merkwürdigen Ausdruck an.
»Wusstest du davon?«
Er schüttelte den Kopf.
»Natürlich nicht. Aber Jimmy hat mich vor ein paar Tagen angerufen. Er sagte, er hätte dich auf dem Fest in Sinsen gesehen, und wollte
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