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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
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einem Schrei. Sie spürte ihn in der Kehle, wusste aber nicht, ob sie ihn ausgestoßen hatte. Ferien, Ski. Sie drehte sich auf die Seite und griff nach ihrem Handy. Es war zehn nach halb zwei. Sie öffnete die Adressliste, fand seinen Namen und drückte auf die Anruftaste.
    »Dahlstrøm.«
    Sie hörte seiner Stimme an, dass sie ihn aus dem Tiefschlaf gerissen hatte. Stellte sich sein Schlafzimmer vor. Seine Frau, die wach neben ihm im Bett lag und teils verärgert, teils besorgt war. Liss wusste, dass Tormod Dahlstrøm vor ein paar Jahren ein zweites Mal geheiratet hatte. Die zweite Frau war Autorin und fast zwanzig Jahre jünger als er.
    »Entschuldige bitte, dass ich dich geweckt habe. Wie dumm von mir.«
    »Bist du’s, Liss?« Er klang nicht einmal überrascht. War es vermutlich gewohnt, dass ihn verzweifelte Patienten nachts anriefen. Menschen, die einfach seine Stimme hören mussten, um bis zum nächsten Morgen durchzuhalten.
    »Es tut mir leid«, wiederholte sie.
    »Warum denn?«
    »Weil es mitten in der Nacht ist.«
    Sie hörte seine Atemzüge.
    »Hast du mich etwa geweckt, um mir das zu sagen?«
    Selbst in diesem Moment scherzte er mit ihr.
    »Ich habe geträumt«, sagte sie, »von Mailin.«
    Er gab einen Laut von sich, der ein halb ersticktes Gähnen sein mochte.
    »Als ich neulich bei dir war, an Weihnachten, da haben wir doch über ihr Forschungsprojekt gesprochen, über sexuelle Gewalt. Wie hieß noch gleich dieser Psychologe, von dem sie so angetan war? Ich glaube, es war ein Ungar.«
    »Stimmt, Ferenczi. Ein ungarischer Psychoanalytiker.«
    »Spricht man so seinen Namen aus?
Feren-schi?
«
    »So ungefähr.«
    »Und wie heißt er noch?«
    »Mit Vornamen, meinst du? Sándor. Er heißt Sándor Ferenczi.«
    Liss war aufgestanden und stand jetzt nackt auf dem kalten Fußboden. Sie ging mit unsicheren Schritten ans Fenster, riss die Gardine zur Seite und betrachtete den braunen Nachthimmel über Rodeløkka.
    »Sand, Ferien, Ski«, murmelte sie, ohne zu merken, dass sie aufgelegt hatte.
     
    Es war fast halb drei, als sie den Zahlencode am Türschloss in der Welhavens gate eingab. Sie dachte daran, dass Jennifer Plåterud ihr gesagt hatte, sie könne jederzeit anrufen, auch nachts. Liss zog es in Erwägung, entschied sich aber dagegen. Sie öffnete die Tür und machte kein Licht im Treppenhaus. Der Schimmelgestank nahm mit jedem Stockwerk zu. In dem Raum, der als Wartezimmer fungierte, waren die Vorhänge zugezogen. Es war stockdunkel, und sie wusste nicht, wo sich der Lichtschalter befand. Sie tastete sich bis zur Tür von Mailins Praxis und schloss auf. Es war nicht mehr Mailins Praxis. Sobald ihre persönliche Habe verschwunden war, würde sie von jemand anders in Besitz genommen werden.
    Sie schloss die Tür hinter sich und schaltete das Licht an. Jemand war seit letztem Mal hier gewesen, vielleicht die Polizei, mehrere Aktenordner lagen auf dem Schreibtisch. Sie betrachtete die Bücher im Regal und entdeckte das Buch von Sándor Ferenczi, das sie schon bei ihrem ersten Besuch hier gesehen hatte. Es hieß
Selected Writings
. Sie zog es heraus und begann zu blättern. Ein paar Stellen hatte Mailin unterstrichen, manchmal auch einen Kommentar an den Rand geschrieben. Eine der Seiten hatte ein Eselsohr. Liss schlug sie auf. Es war das 33. Kapitel: »Confusion of tongues between adults and the child. The language of tenderness and of passion.« Unten auf der Seite hatte jemand mit Rotstift eine Notiz gemacht. Liss erkannte Mailins Handschrift: »Death by water – Jakkas Sprache.« In diesem Moment erlosch das Licht. Aus dem Wartezimmer drang ein Geräusch. Eine Tür wurde geöffnet. Sie schrak auf. Für ein paar Sekunden flackerte das Deckenlicht, schimmerte gräulich, blinkte zwei Mal und erlosch wieder.
Du hast keine Angst, Liss Bjerke!,
schrie es in ihr.
Nie wieder.
Sie schlich zur Tür und hielt ihr Ohr daran. Nichts, allenfalls ein leises Kratzen. Sie legte die Hand auf die Klinke. Sie bewegte sich. Es dauerte zwei Sekunden, ehe sie begriff, dass jemand die Tür von außen öffnete. Sie zuckte zurück und drückte sich an die Wand. Die Tür glitt auf. Im Dunkeln nahm sie eine Gestalt wahr. Eine Taschenlampe wurde angeknipst. Ihr Lichtkegel wanderte durch das Zimmer und verharrte dann auf ihrem Gesicht.
    »Liss Bjerke …« Ihr Name kam aus der Dunkelheit, während sie ihn gleichzeitig dachte. Als hätte der Gedanke sie verlassen und würde von der Türöffnung aus, hinter dem Licht, zu ihr sprechen.

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