Die Netzhaut
Doch es war nicht ihre Stimme, sie war hell und ziemlich heiser und hatte immer noch diesen amerikanischen Akzent, der einst interessant und jetzt nur noch affektiert und künstlich klang.
»Was machst du hier?«, fragte sie.
Sie hörte, wie er leise lachte.
»Du warst schon immer dreist, Liss. Brichst einfach mitten in der Nacht in fremde Wohnungen ein und fragst dich, was die Leute dort tun, die dich überraschen.«
Pål Øvreby kam einen Schritt näher. »Okay, ich werde es dir erklären. Es kommt manchmal vor, dass ich abends ziemlich lange in der Stadt bin. Statt ein Taxi nach Hause zu nehmen, gehe ich dann hierher und schlafe ein paar Stunden in meiner Praxis. Wie dir bekannt sein dürfte, habe ich diese Räume nämlich gemietet und bezahle jeden verdammten Monat 5250 Kronen dafür. Damit dürfte deine Frage hinreichend beantwortet sein. Kannst du mir jetzt vielleicht erklären, was du hier zu suchen hast?«
Sie erkannte sein Gesicht nicht richtig, nahm aber seinen Geruch wahr. Er roch nach Tabak, Bier und nach Kleidern, die nach dem Waschen nicht richtig getrocknet worden waren. Dieser Geruch drang in sie ein und entfernte den Deckel von Behältern, die sie sorgsam verschlossen hielt. Sie waren voller kleiner Tiere. Jetzt begannen sie herumzukriechen, vom Kopf abwärts über ihren Körper.
»Das ist Mailins Praxis. Niemand kann mir verbieten hierherzukommen.« Sie versuchte, ihrer Stimme einen zornigen Klang zu geben. Wenn ihr das gelang, konnte sie ihrer Wut freien Lauf lassen.
»Du bist schon früher zu mir gekommen, Liss. Glaubst du, das weiß ich nicht mehr? Und es sollte mich auch nicht wundern, wenn du wüsstest, dass ich zurzeit hier übernachte. Bei mir zu Hause ist nämlich die Hölle los.«
Er stand jetzt ganz dicht vor ihr.
»Und das hat mit dir zu tun, Liss Bjerke«, flüsterte er. »Das hat viel mehr mit dir zu tun, als du ahnst.«
Er legte die Hand unter ihr Kinn und drückte es nach oben, als sei sie ein kleines Mädchen, das sich weigerte, ihm in die Augen zu blicken. »Wir hatten doch so eine schöne Zeit zusammen, Liss. Glaub nicht, dass ich das vergessen habe.«
Seine Finger glitten um ihr Ohr herum in ihren Nacken und zogen sie an sich.
Sie riss ihm die Taschenlampe aus der Hand und leuchtete ihm ins Gesicht.
»Glaubst du, Pål Øvreby, dass ich Angst habe zu töten?«, zischte sie und hörte, dass ihre Stimme so kalt wie eine Stahlsaite war. »Wenn du mich noch einmal anfasst, dann kannst du dich nie mehr sicher fühlen. Ich töte dich, sobald du eingeschlafen bist.«
Er ließ die Hand sinken. Sie stieß ihm die Taschenlampe in den Bauch, drängte sich an ihm vorbei, hastete durchs Wartezimmer und die Treppe hinunter. Er lief ihr nicht nach.
21
J ennifer Plåterud saß in der Bingsfosshalle und fröstelte. Nach über fünf Jahren waren ihr die Handballregeln immer noch nicht vertraut, aber das machte ihr nichts aus. Sie jubelte, wenn die Mannschaft ihres jüngsten Sohnes Sigurd ein Tor warf, und schloss sich in ihren Beurteilungen ansonsten den Eltern an, die etwas von der Sache verstanden. Sie mochte diesen Sport, sah aber dennoch keinen Grund, sich näher mit seinen Regeln zu befassen. Die Jungen wurden körperlich abgehärtet, indem sie ständig zusammenstießen und einiges einstecken mussten. Immer wieder landeten sie auf dem Boden und sprangen sofort wieder auf, ohne lange zu lamentieren. Ihr älterer Sohn Trym hatte Fußball gespielt, und dort war es ganz anders zugegangen. Die Fußballer wälzten sich bei der geringsten Berührung mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Rasen. Beim Handball hingegen durfte man nicht zartbesaitet sein, was zu Sigurd passte, der viel widerstandsfähiger war als sein großer Bruder. Diese Widerstandsfähigkeit hatte er von ihr, während sie bei Trym, der zwei Jahre älter war, all die Trägheit und Nachgiebigkeit seines Vaters wiedererkannte, und noch mehr.
In der Halbzeitpause ging sie nach draußen und zog ihr Handy aus der Tasche. Zum zweiten Mal innerhalb von zwölf Stunden rief sie Kommissar Viken an und freute sich über den mühsam beherrschten Zorn in seiner Stimme, als sie ihm sagte, worum es ging.
»Und Sie tun weiterhin alles, um Liss Bjerke zu überreden, sich direkt an uns zu wenden«, sagte er gereizt.
»Die Antwort erübrigt sich«, stellte sie fest. »Es ist ja nicht meine Schuld, dass sie null Vertrauen zu Ihnen hat.«
Ich frage mich, wie ungeschickt Sie sich im Gespräch mit ihr angestellt haben, hätte sie
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